Renner & Kersting 03 - Mordsgier
absolut sicher war. Ob Klaus all das auch ermittelt hatte?
»Sag’ mal, hat die Polizei dich auch über Rufus ausgefragt?«
»Ein Beamter war hier, aber nur kurz. Ich hab’ ihm das Übliche erzählt. Schließlich soll man einem Toten ... und so weiter. Außerdem kenne ich seine diversen Liebschaften auch gar nicht. Woher soll ich also wissen, wer Grund hatte, ihn umzubringen? Seinem Charakter entsprechend, wird es da sicher viele geben.« Beide schwiegen. Anna traurig. Helga eher nachdenklich. Nach einer Weile fuhr Anna wie im Selbstgespräch fort. »Ich glaube, den Werner hatte er auch in der Hand. Er machte auf Gran Canaria so seltsame Andeutungen – und Werner zuckte jedes Mal zusammen. Eigentlich traue ich Werner nichts Böses zu, aber Dieter meinte, die beiden hätten dem Finanzamt eine lange Nase gedreht. Vermutlich nicht ganz legal, aber was soll’s? Steuern zu sparen ist kein Verbrechen, zumindest kein richtiges. Jedenfalls, Werner ging es lange Zeit so schlecht, dass er sogar über Insolvenz nachdachte. Und dann verfügte er plötzlich wieder über Geld und kaufte zwei neue LKWs. Ich möchte zu gern wissen, was da gelaufen ist. Diese plötzliche Kumpanei passt weder zu Rufus noch zu Werner. Kennst du Werner Filser? Ihm gehört eine Spedition in Altenhagen. Sie hatten beide Glück bei dem Unfall. Werner ist wieder daheim. Er hat nur ein HWS-Schleudertrauma und ein paar Quetschungen abgekriegt, und wie ich ihn kenne, überlegt er bestimmt schon, wie er die Versicherung auf Schmerzensgeld angehen kann. Katja liegt noch im Krankenhaus. Ich hätte sie längst besuchen müssen, aber wir hatten genug mit uns selbst zu tun, Dieter und ich. Und jetzt ...« Wieder weinte sie leise.
Als Helga Anna verließ, schwirrte ihr der Kopf. Sie blieb einen Moment vor ihrem Auto stehen, um die kalte Nachtluft einzuatmen. Ausnahmsweise war der Himmel einmal nicht bewölkt, und sie schaute zu den Sternen hinauf. Obwohl sie nur ein einziges Bild kannte, den großen Wagen, gefiel ihr der Anblick immer wieder. Sie liebte die frostklaren Winternächte, wenn die Bäume wie gespenstische Gestalten aus Märchen und Fabeln erschienen. Dann trauerte sie dem Leben auf dem Lande nach. Doch dort hätte sie niemals Klaus kennen gelernt, und dieser Gedanke besaß etwas ungemein Tröstliches. Sie riss sich von dem Anblick los und stieg ins Auto.
Unterwegs dachte sie über das Gespräch nach. Da hatte Anna doch eine Menge ausgeplaudert. Von dieser Seite kannte Helga die Kollegin nicht. Früher in der Schule hatte sie sich stets zurückgehalten und nie über private Dinge geredet. Verwirrt ging sie vom Gas und fuhr langsamer und vorsichtiger. Stellenweise schien es glatt zu sein. Anna war viel zu intelligent, um nicht genau zu wissen, was sie sagte. Ihr Tonfall, als sie die plötzliche Kumpanei von Rufus und Werner erwähnte ließ diverse Schlussfolgerungen zu. Dass sie der Polizei nichts über Rufus’ Affären erzählt hatte, lag sicher an der konservativen Erziehung ihrer spanischen Mutter. Vermutlich fühlte sie sich noch immer an Konventionen gebunden. Bevor Helga weitere Überlegungen anstellen konnte, traf sie ein anderer Gedanke mit der Wucht eines stürzenden Felsens. Die Hausaufgaben ihrer Schüler! Sie hatte sie immer noch nicht nachgesehen. Wie erwartet, besaßen viele tatsächlich kein zweites Heft, und sie hatte heute Morgen einen Großteil der kopierten Linienblätter verteilen müssen. Da sie weder über genügend Kopien verfügte noch Angela ein zweites Mal um Hilfe bitten mochte, blieb ihr keine Wahl als gleich noch die Hefte zu kontrollieren. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Zehn Uhr dreißig. Für diese Arbeit würde sie mindestens zwei Stunden benötigen. Scheiße! Warum dachten eigentlich alle Leute, Lehrer hätten einen Halbtagsjob? Für Klaus war es selbstverständlich gewesen, dass sie Käthe begleitete, da er keine Zeit hatte, und für Anna schien es ebenso selbstverständlich, dass sie ihr den ganzen Abend Gesellschaft leistete. Wütend bog Helga in ihre Straße ein, wo sie zu allem Übel keinen freien Parkplatz fand und zwei Straßen weiterfahren musste, was ihre Laune auch nicht hob. Mit zusammengebissenen Zähnen marschierte sie heim, warf ihre Jacke über den Hocker im Flur, die Garderobe hing mal wieder voll, schaltete den Wasserkocher ein für Tee, knallte Hefte und Rotstift auf den Schreibtisch und stellte etwas vorsichtiger ihre Tasse daneben.
18
Als sie am nächsten Morgen müde und zerschlagen
Weitere Kostenlose Bücher