Renner & Kersting 03 - Mordsgier
auch Radfahrer dort fahren, ein richtiger Spazierweg eben. Glatteis gibt es, wenn überhaupt, nur auf den Pfützen, und Dieter war trittsicher. Wir sind früher viel in den Bergen gewandert. Meist begleitete ich ihn, nur gestern ...« Leises Schluchzen übermannte sie. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, als wollte sie verhindern, dass Helga ihre Tränen sah. Diese folgte mit zwei gefüllten Tassen, setzte sie ab und strich unbeholfen über die zuckenden Schultern. »Weine ruhig, weinen tut gut. Es erleichtert.« Für so einen Verlust gab es keinen Trost, dachte sie, als sie verzweifelt überlegte, was sie denn noch sagen könnte.
»Warum?«, schluchzte Anna. »Warum nur? Dem einen Unfall entgeht er und hier rutscht er aus und stürzt in den See. Das macht doch keinen Sinn.«
Wie oft, wenn sie am Schreibtisch saß und ihren Religionsunterricht vorbereitete, hatte Helga sich schon gefragt, ob ein Plan hinter der menschlichen Entwicklung steckte, gleichgültig ob er von einem persönlichen Gott stammte oder ob es sich um ein universelles Gesetz handelte. Sie hatte sich mit vielen verschiedenen Vorstellungen befasst, doch wirklich überzeugt hatte sie keine. Manchmal hielt sie das Schicksal für blind, dann geschahen wieder Dinge, die ihr zeigten, dass doch wohl ein Sinn hinter den Geschehnissen stecken müsse. Dieter Pawaleks Tod jedoch widersprach jedem Gedanken an eine Zielrichtung. Nach dem Schock im Urlaub hatte das Ehepaar sich erholt, freute sich über das geschenkte Leben, das es nun mehr denn je zu würdigen wusste, und wenige Wochen später holte der Tod den Mann doch noch. Unbewusst schüttelte Helga den Kopf. Sie hatte sich schon häufig über das Thema unterhalten, aber nun stand eine direkt Betroffene vor ihr, verzweifelt und voller Fragen, und sie fühlte sich sprach-und hilflos. Alles wäre einfacher, dachte sie, wenn ihr Glaube wirklich stark wäre. Dann könnte sie aus Überzeugung sprechen und Trost spenden.
»Nein, es macht keinen Sinn, jedenfalls nicht für uns. Und nicht in diesem Moment. So hart es klingt, du hast keine Wahl als stark zu sein und dich mit dem Verlust abzufinden, und dabei kann dir keiner helfen. Ich kann dich nur ein wenig ablenken und versuchen, deine Einsamkeit zu erleichtern, bis die Zeit den Schmerz lindert. Es tut mir leid«, schloss sie lahm.
»Schon gut, du hast ja recht. Und es so klar gesagt zu bekommen, hilft mehr als schöne Reden. Ein paar Nachbarn und Bekannte waren heute Nachmittag da. So viel ›Kopf hoch!‹ und ›Es wird schon wieder!‹ und ähnlichen Blödsinn habe ich noch nie gehört. Dieter ist tot. Wie soll es da wieder werden? Und was soll werden?«, fragte Anna bitter und voller Hohn.
Helga schwieg. Wieder flossen die Tränen. »Ich will nicht allein sein. Ich kann das nicht. Immer war Dieter da, wenn ich etwas nicht wusste, wenn ich Mut oder Hilfe brauchte. In der Schule, bei Entscheidungen, immer. Er hat meinem Leben einen Sinn gegeben. Und jetzt?«
Darauf gab es keine Antwort. Anna beruhigte sich. »Du schweigst und sagst damit mehr als all die anderen mit ihren schönen Worten.« Sie atmete tief durch, ging ins Bad und kam mit einem vom kalten Wasser geröteten Gesicht wieder. »Anderes Thema: Hast du schon gegessen?«
Helga schlug vor, Rühreier zu braten. Das würde mehr Zeit benötigen als nur ein Brot zu schmieren. Und sie wollte Anna möglichst lange beschäftigt halten, auch wenn sie die meiste Zeit am Tisch saß und zuschaute. Der Plan funktionierte. Während Helga Eier aufschlug, würzte und verrührte, sprach Anna ruhig über harmlose Themen wie Skispringen und Eiskunstlauf, und gab beißende Kommentare über den neuesten Artikel zum Schumacher-Museum ab. Ein ebenso kontroverses wie unerschöpfliches Thema.
Als beide gesättigt waren, brühte Helga einen Kräutertee aus Pfefferminz und Brennnessel auf, dem sie ein paar Tropfen Baldrian zufügte, während Anna das Geschirr spülte. Kurze Zeit später saßen sie wieder am niedrigen Wohnzimmertisch, wo Helga verzweifelt nach einem Gesprächsthema suchte. Verstohlen blickte sie auf die Uhr. Das Abendprogramm im Fernseher hatte längst begonnen. Außerdem hielt sie fernsehen sowieso für keine gute Idee.
Anna starrte ins Leere. »Genau davor habe ich Angst. Vor den langen, einsamen Abenden.«
Helga nickte. »Erzähl’ doch mal etwas über eure Clique. Den Wohlfang habe ich nur kurz gekannt, als Kollege. Manchmal hatte ich den Eindruck«, innerlich amüsierte sie sich über ihre vorsichtige
Weitere Kostenlose Bücher