Renner & Kersting 03 - Mordsgier
böse und leicht erkennbar und die Protagonisten gut waren. An diesem Nachmittag stand ihr der Sinn nicht nach psychologischen Tiefenbohrungen. Für kurze Zeit, als sie entspannt auf dem Sofa lag, vergaß sie ihre Probleme. Erst als das Telefon schrillte, kehrte sie in die Gegenwart zurück. Herbert Merklin wollte sich gern mit ihr unterhalten. Überrascht und auch ein wenig überrumpelt sagte sie zu. Bevor er kam, entwarf sie noch ein paar Arbeitsblätter mit Rechtschreibübungen, die sie im Laufe der Woche brauchen würde. Eigentlich hatte sie den Schülern heute Nachmittag bereits genug Gedanken, Zeit und Energie gewidmet, fand sie, auch wenn die Energie mehr darauf gerichtet gewesen war, Schule zu vergessen.
Kurz nach sieben klingelte es. »Danke, dass Sie einen Moment Zeit haben.« Mit diesen Worten begrüßte sie Herr Merklin. Er sah gut aus wie immer. Tadellos gekleidet, weder Augenringe noch sonstige Anzeichen von Kummer im Gesicht. Nachdem er forsch hereingekommen und die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, stand er nun verlegen in der kleinen Diele. »Da Sie Alis beste Freundin sind, dachte ich mir, Sie können mir vielleicht sagen, was mit ihr los ist.«
Helga lotste ihn erst einmal ins Wohnzimmer, bot Platz an, fragte nach Getränken, plapperte über das Wetter. Sie brauchte Zeit. Natürlich hatte sie sich bereits gedacht, dass er über seine Frau mit ihr reden wollte. Es gab keine anderen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Doch die Arbeit für die Schule hatte sie abgelenkt und so viel Zeit in Anspruch genommen, dass sie sich auf diesen Besuch in keiner Weise vorbereitet hatte und nun nicht wusste, was sie antworten sollte. Da er nichts trinken mochte, blieb ihr nicht viel Zeit zum Überlegen. Also wandte sie ihre altbewährte Taktik an und bat ihn, ein wenig mehr zu erzählen.
»Ich versteh’ meine Frau einfach nicht mehr.« Wie ein Strom brach es aus ihm heraus. »Gut, Höhen und Tiefen gibt es in jeder Ehe, und Ali ist nun mal etwas ... eh ... quecksilbrig. Aber bisher haben wir uns immer verstanden, ich hab’ nie etwas gegen ihre Aktivitäten gesagt, auch wenn es mir manchmal zu viel erschien. Aber solange die Kinder nicht darunter litten ... ich wollte ihre Freiheit nicht beschneiden. Wissen Sie, wir hatten eine klare Abmachung: Ich verdiene das Geld, und sie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. Bisher hat das auch ganz gut funktioniert. Nur jetzt ... jetzt leiden die Kinder. Sie sind beide noch zu jung, um den ganzen Nachmittag und Abend ohne Aufsicht zu verbringen. Franziska muss allein zu Bett gehen, weil die Mutter nicht da ist, und Veronika flüchtet immer öfter zu einer Freundin. Als ich dann versuchte, mit Ali darüber zu reden, fing sie plötzlich von Scheidung an. Wir kennen uns seit 20 Jahren, seit siebzehn sind wir verheiratet. Da lässt man sich doch nicht so schnell scheiden. Man muss doch mal vernünftig miteinander reden können. Pustekuchen! Sie geht mir aus dem Weg, und wenn ich versuche, sie anzusprechen, blafft sie mich an. Daheim herrscht eine Stimmung, grauenhaft, sage ich Ihnen. Kein Wunder, dass die Kinder nur noch schlechte Noten nach Haus bringen. Dabei waren alle beide sonst richtig gut in der Schule. Aber das wissen Sie ja. Und Ali ist dauernd unterwegs, als ob sie das alles nicht interessiert. Es sind doch auch ihre Kinder! Ich versteh’ das nicht. Wissen Sie, was mit ihr los ist? Sie sind ihre beste Freundin, und vielleicht hat sie Ihnen ja was gesagt?« Er wirkte hilflos. Helga war viel zu überrascht, um vorsichtig zu taktieren. »Soll das heißen, Sie lieben Ihre Frau und wollen sich gar nicht von ihr trennen?«, platzte sie heraus.
»Selbstverständlich nicht, was denken Sie denn?«
»Und Ihre Freundin? Ali erzählte, Sie hätten eine Freundin und wollten ihretwegen die Scheidung.«
»Lieber Himmel!« Herbert stöhnte. »Ich glaube, jetzt muss ich doch auf Ihr Angebot mit den Getränken zurückkommen. Haben Sie etwas Scharfes? Nicht viel, schließlich muss ich noch fahren, aber auf den Schreck ...«
Helga schenkte Kirsch ein. Seine Reaktion machte sie neugierig. Er trank das Glas in einem Zug wie ein Verdurstender, ohne abzuwarten, ob sie sich auch einschenkte oder ihr gar zuzuprosten. Es folgte ein weiterer tiefer Seufzer. »Ich sehe schon, ich muss Ihnen die Geschichte unseres Herbsturlaubs nicht mehr berichten. Unsere neuen Nachbarn, Sie haben davon gehört?« Fragend blickte er sie an. Auf ihr Nicken hin fuhr er fort. »Also, wir waren
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