Replay - Das zweite Spiel
mitten im Niemandsland von einer Brücke in einen großen See schleuderte. Es war ein gutes Gefühl, die verdammten Handschuhe endlich auszuziehen, sie nahe einer gottverlassenen Stadt, die ausgerechnet Gun Barrel hieß, aus dem Wagenfenster zu werfen. Seine Hände fühlten sich anschließend freier an, sauberer.
Die nächsten vier Tage über blieb er auf seinem Zimmer im Holiday Inn, sprach mit niemandem außer dem Zimmermädchen und ging nur nach draußen, um sich die Lokalzeitungen zu kaufen. Am Dienstag dem 19. stand im Dallas Herald die Meldung, auf die er gewartet hatte, auf Seite fünf: Lee Harvey Oswald war vom Secret Service wegen Bedrohung des Lebens des Präsidenten festgenommen worden und würde ohne Kaution festgehalten werden, bis Kennedy seine Eintagesreise nach Texas beendet hatte.
Auf dem Rückflug nach New York an diesem Abend betrank sich Jeff, doch der Alkohol war nicht der Grund für den Triumph, den er verspürte, für die frohlockenden Gedanken, die seinen Geist erfüllten: Bilder von einer Welt, in der Verhandlungen an die Stelle des Vietnamkrieges traten, in der die Hungrigen satt wurden, die Gleichberechtigung der Rassen ohne Blutvergießen verwirklicht wurde … eine Welt, in der John F. Kennedy und der hoffnungsvolle Geist der Menschlichkeit nicht sterben, sondern auf der Erde blühen und gedeihen würden.
Als das Flugzeug landete, erschienen Jeff die Lichter von Manhattan wie ein leuchtendes Vorzeichen der glorreichen Zukunft, die er soeben erschaffen hatte.
Am Freitagnachmittag öffnete seine Sekretärin zehn Minuten nach eins ohne anzuklopfen die Tür zu seinem Büro. Mit tränenüberströmtem Gesicht stand sie da und brachte kein Wort heraus. Jeff brauchte sie nicht zu fragen, was geschehen war. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand mit einem unsichtbaren, schweren Gegenstand in den Magen geschlagen.
Frank trat hinter ihr ein und teilte der jungen Frau ruhig mit, heute werde nicht mehr gearbeitet, sie und alle anderen Angestellten sollten nach Hause gehen. Er nahm Jeff ins Schlepptau, und zusammen verließen sie das Gebäude. Unter den Menschen, die auf der Park Avenue herumirrten, herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Einige weinten unverhohlen, andere hatten sich um Auto- oder Kofferradios versammelt. Die meisten starrten vor sich hin, während sie in einer langsamen, zerstreuten Gangart, die für New Yorker vollkommen untypisch war, geistesabwesend einen Fuß vor den anderen setzten. Es war, als habe ein Erdbeben die massive Betondecke von Manhattan gelockert, und niemand war sich mehr sicher, ob er seine Füße noch gefahrlos aufsetzen könne. Niemand wusste, ob die Straßen nicht erneut erzittern, nachgeben oder sogar bersten würden, um die Welt zu verschlingen. Die Zukunft war eingetroffen, mit einem niederschmetternden Satz.
Frank und Jeff setzten sich an einen Tisch in einer Bar nahe Madison Square Garden, in der jedes Gespräch verstummt war. Auf dem Fernsehschirm startete von Dallas aus die Air Force One, an Bord den Leichnam des Präsidenten. Vor seinem geistigen Auge sah Jeff das Foto von L. B. J., der mit einer benommenen Jacqueline Kennedy neben sich den Amtseid ablegte. Das blutverschmierte Kleid, die Rosen…
»Was geschieht jetzt?«, fragte Frank.
Jeff riss sich aus seinen makabren Tagträumereien. »Was meinst du?«
»Was steht der Welt jetzt bevor? Wie geht es jetzt weiter?«
Jeff zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, eine Menge hängt von Johnson ab. Davon, welche Figur er als Präsident abgeben wird.«
Frank schüttelte den Kopf. »Du ›glaubst‹ gar nichts, Jeff. Ich hab noch nie erlebt, dass du etwas glaubst. Du weißt es.«
Jeff sah sich nach einem Kellner um; sie blickten alle zum Fernseher, hörten zu, wie ein junger Dan Rather zum zwanzigsten Mal die folgenschweren Ereignisse des Nachmittags rekapitulierte. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Ich auch nicht, jedenfalls nicht genau. Aber da ist etwas, das … mit dir nicht stimmt. Irgendetwas Seltsames. Und es gefällt mir nicht.«
Jeff sah, dass die Hände seines Partners zitterten. Er brauchte dringend einen Drink.
»Frank, das ist ein schrecklicher, merkwürdiger Tag. Wir stehen im Moment alle unter Schock.«
»Du nicht. Nicht so wie ich und alle anderen. Niemand im Büro hat dir gesagt, was passiert ist - es war, als wäre das völlig unnötig, als wüsstest du auch so, was passiert ist.«
»Sei nicht albern.« Ein stämmiger Polizeibeamter wurde gerade im Fernsehen interviewt,
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