Reptilia
durchatmen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte. Hier waren sie nun, die Antworten, nach denen wir gesucht hatten. Dies konnte nur Emilys geheimes Labor sein, in das sie und ihre Männer sich nach der Vernichtung ihres Lagers am See zurückgezogen hatten. Wann und wie es ihnen gelungen war, diesen Ort zu entdecken und warum sie sich so lange verborgen hatten, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, würde noch zu klären sein. Doch wo steckten sie und ihre Helfer? Der Raum sah aus, als wäre hier bis vor kurzem noch gearbeitet worden, doch jetzt, im flackernden Licht der Öllampen, wirkte er eher wie eine Grabkammer. Vielleicht gab es noch eine weitere Geheimtür.
»Emily?« Mein Ruf hallte von den Wänden wider. »Emily, steckst du hier irgendwo?«
Keine Antwort.
Elieshi zupfte mich am Ärmel und deutete auf eine Reihe von Schlaflagern, die im dunkleren Teil des Raumes ausgebreitet waren. Die Isomatten und Schlafsäcke lagen unordentlich durcheinander und schienen seit einiger Zeit nicht benutzt worden zu sein.
Alle bis auf einen.
Meine Atmung setzte einen Moment aus, als ich erkannte, dass sich ein Körper darin befand.
30
Der Körper lag zusammengekrümmt auf der Erde. Er wirkte wie ein loses Bündel Wäsche, das jemand achtlos in die Ecke geworfen hatte. Ich fühlte einen Stich im Herzen. Plötzlich überfiel mich die Gewissheit, dass ich zu spät kam. Egomo und Elieshi schienen das ebenfalls zu spüren, denn sie ließen mir den Vortritt.
Emily sah aus, als würde sie schlafen. Doch sie war tot – und das bereits seit einiger Zeit. Nur die Kühle des Tempels hatte ihren Körper bisher vor Verwesung bewahrt. Er war gezeichnet von Schwäche und Krankheit. Ich schluckte, während ich damit begann, sie zu untersuchen. Ihre linke Hand war notdürftig bandagiert, und ich sah, dass die darunterliegende Verletzung nie richtig verheilt war. Die Wunden sahen aus, als wären sie durch mehrere spitze Gegenstände entstanden. Vielleicht hatte Emily sie sich an den Reißzähnen der Wächterstatuen zugezogen. Ob die Infektion zu ihrem Tod geführt hatte, konnte ich nicht einschätzen, aber mit Sicherheit hatten sie ihr große Schmerzen verursacht. Ihr schönes Gesicht, das auf den Fotos in Palmbridge Manor noch so jung und lebensfroh gewirkt hatte, war bleich und eingefallen. Doch um ihren Mund erkannte ich immer noch die Zeichen des jugendlichen Übermutes, der mich vor so langer Zeit verzaubert hatte. Der Mund, der so hinreißend lächeln konnte und der mir meinen ersten Kuss gegeben hatte.
Es heißt, die erste Liebe überstehe alle Stürme, und ich fühlte, dass viel Wahrheit in dieser Behauptung steckt. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob sie sich auf eine reale Person bezog oder auf das Idealbild, das man sich selbst geschaffen hatte. Natürlich wusste ich, dass die Person in meinen Armen eigentlich eine fremde Frau war. Trotzdem hob ich sie hoch und drückte ihr Gesicht an meine Schulter. Es gab nur noch sie und mich, und als ich meine Hände durch ihre kurzen blonden Haare gleiten ließ, wurde ich überwältigt von der Erinnerung an unsere gemeinsame Kindheit.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich Abschied genommen hatte und mich wieder von ihr lösen konnte. Als ich meinen Blick hob, sah ich, dass ihre Finger ein Buch umklammert hielten. Es hatte einen roten Leineneinband, lederne Stoßkanten, und auf seinem Umschlag befand sich das geprägte Wappen der Familie Palmbridge. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und griff danach. Es war ein Tagebuch, und als ich es ihren starren Fingern entwand, öffneten sich die Seiten an der Stelle, an der sie zuletzt geschrieben hatte. Der Eintrag datierte vom 9. Februar, dem Tag, an dem ich in Brazzaville eingetroffen war. 9. Februar. Es dauerte eine Weile, bis mir die Bedeutung dieses Datums klar wurde. Gesetzt den Fall, wir hätten gewusst, dass sie noch am Leben war, und gesetzt den Fall, wir hätten sofort eine Rettungsaktion gestartet, wären wir trotzdem zu spät gekommen. Emily Palmbridge war zu diesem Zeitpunkt schon unheilbar krank gewesen. Das war eine ebenso nüchterne wie unausweichliche Tatsache. Eine Tatsache, die auch etwas Tröstliches hatte. Ihr Schicksal war zu diesem Zeitpunkt bereits besiegelt, und nichts hätte daran etwas ändern können.
In Elieshis Augen sah ich tiefe Betroffenheit.
»Sie ist es, nicht wahr?«, fragte sie.
»Warum hat sie nicht versucht heimzukehren?«, murmelte ich. »Warum hat sie sich hierher
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