Requiem: Roman (German Edition)
Füßen. Auf dem zweiten Absatz hielt er nach der Dienstbotentreppe Ausschau, die auf den Speicher und zu den Dachkammern hinaufführte. Die enge Treppe brachte ihn in den zweiten Stock. Er öffnete eine Tür, die auf einen Korridor führte, dessen Bodenbretter herausgerissen worden waren. McCrink musste über die freiliegenden Balken gehen. Das Dachgebälk war sichtbar, an etlichen Stellen waren die Schindeln weggeweht worden, der Korridor war der Nacht ausgesetzt. Das Gebälk knarrte, die Ziegel des alten Hauses rieben sich knirschend aneinander. McCrink realisierte, dass er sich über dem Zimmer mit dem Blutfleck auf dem Boden befand, dem größten Schlafzimmer. Geschlagen, erwürgt, erstochen. Doris Curran hatte genau gewusst, wohin sie ihn schickte. Eine Atmosphäre von künstlicher Bedrohung, wahnsinnige Frauen, die nachts durch die Heide streiften, das Heulen des Windes, das zu einem schrillen Kreischen anschwoll. Doris, die in Broadmore aufgewachsen war, im Gefängnis für geistesgestörte Straftäter, Doris, die Beraterin lüsterner Irrer, die Ratgeberin und Mentorin zerstörter Seelenorte. Die Schachtel mit den Aufzeichnungen der Telefongespräche lag da, wo sie gesagt hatte, auf dem Schminktisch im Mädchenzimmer. McCrink ging darauf zu, als wären sie eine Art Sühnegeld, eine Belohnung aus dem Vorrat einer Wahnsinnigen. Er nahm die Schachtel und trug sie die Treppe hinunter.
Er hatte die Schachtel neben sich auf dem Beifahrersitz, als er aus Whiteabbey wegfuhr. Er fühlte sich, als sei er damit im Besitz der Urkunde samt ihrer Zusätze, die alle Handlungen der Currans verzeichneten, ein Nachlass, der ihm in dieser Nacht des Grolls vermacht worden war.
*
McCrink fuhr nach Newry und ging zur Telefonzelle an der Hill Street. Er verlangte eine Verbindung mit Len Barrett vom Express in London. Der Anruf ging über den Kanal, und er musste einige Minuten warten, bis er durchgestellt wurde; er lauschte dem Rauschen der Verbindung, verlor sich im transnationalen Netzwerk. Er wurde zum Gebäude des Express durchgestellt und wartete am Apparat auf Barrett.
Während er in der Zelle stand, hörte er im Hintergrund die Geräusche aus dem Nachrichtenraum. Bestimmt liefen die Druckmaschinen für die morgige Ausgabe. Er erinnerte sich an Nächte dort, in denen sich das ganze Gebäude zu den Vibrationen der Maschinen bewegte, Drucker kamen und gingen, Mitglieder der Druckergewerkschaft, voller Überzeugung und innerer Stärke, korpulente, hemdsärmelige Männer, die große, komplizierte Druckpressen bedienten. Er schaute durch das trübe Glas, 23 Uhr 30, die Straße war unbelebt, er sah die verwischten Formen der Kleiderpuppen im Schaufenster von Foster Newell’s, die Trostlosigkeit kleinstädtischer Straßenbilder.
»Barrett?«
»Hier ist Eddie McCrink.«
»Was willst du um diese Uhrzeit, McCrink?«
»Hast du über den McGladdery-Fall berichtet?«
»Ist hier bloß ein kleiner Fisch, tut mir leid. Schlagzeilen machen Hanratty und der A6-Mord.«
»Ich glaube, die haben McGladdery reingelegt.«
»Da musst du aber mit was Besserem rüberkommen. Glauben ist nicht beweisen. McGladdery ist genau die Art Dorfrowdy, den die Leute hängen sehen wollen. Wenn die hier drüben überhaupt an McGladdery denken, was sie nicht machen, dann als einen, den man an den Galgen bringt. Sogar die Gegner der Todesstrafe wären froh, ihn am Galgen zu sehen, und das war’s. Wirft ein zu schlechtes Licht auf Mörder.«
»Und was ist, wenn ich dir etwas zeige, das mit dem Richter zu tun hat, der die Strafe ausgesprochen hat? Er ist der Vater von Patricia Curran. Er ist drauf und dran, Mitglied des Kronrats zu werden.«
»Nach dem Mord damals hat man über ihn geredet.«
»Die Eltern des Freundes von Patricia bekamen einen Anruf von Richter Curran, der wissen wollte, ob sie seine Tochter gesehen hätten. Die Eltern schwören, dass der Anruf erst kam, nachdem die Leiche bereits gefunden worden war.«
»Ich kann mich erinnern. Du denkst also, wenn du den Richter zu Fall bringst, müssen sie den Prozess neu verhandeln.«
»Sie müssten’s sich zumindest überlegen.«
»Aber du kannst nichts davon beweisen. Die Eltern könnten sich irren.«
»Tun sie nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich hab die Telefonaufzeichnungen jener Nacht. Die Anrufe aus Currans Haus sind mit dem jeweiligen Zeitpunkt aufgezeichnet.«
»Wie bist du an die gekommen?«
»Patricias Mutter hat sie mir gegeben.«
»Herrgott, McCrink, du bewegst dich
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