Requiem: Roman (German Edition)
dich Pearl gekratzt? Ist das der Grund, weshalb du sie geschlagen hast?
»Die haben dauernd versucht, ein Geständnis aus mir herauszupressen, Mr Brown, aber ich hab den Mund gehalten. Weil ich es nicht war.«
Achtzehn
I n den letzten Wochen vor dem Prozess scheint Pearl in Vergessenheit geraten zu sein. In den Zeitungen erscheinen Fotos von Robert. Agnes wird zitiert, Brian Faulkner und Harry West machen unverbindliche Aussagen über die Rechtsprechung. Es wird spekuliert, ob Robert sich selbst verteidigen wird. Dann taucht eine weitere Fotografie von Pearl auf. Das Papier ist vergilbt und die Auflösung niedrig, was eine Beurteilung erschwert, doch scheint die im Archiv befindliche Aufnahme, gestellt und professionell ausgeleuchtet, in einem Studio gemacht worden zu sein. Pearl sitzt mit dem Rücken zur Kamera, sie hält den Kopf schräg und sieht in Richtung des Fotografen. Das Foto zeigt eine andere Person als das lachende Mädchen auf dem Bild, das üblicherweise verwendet wird. Auf diesem Bild sieht Pearl exotisch aus. Sie hat sich halb umgewandt und blickt über die Schulter in die Kamera. Das Bild hat den stilisierten Charakter eines japanischen Porträts, die Haut ist makellos, die stark geschminkten Augen sind nach oben in die Ecke gerichtet, die Lippen streng gespitzt. Das Gesicht ist ausdruckslos wie bei einer Geisha. Pearl könnte eine Figur aus Roberts Kriminalromanen sein. Man kann sie sich in einem orientalischen Ambiente vorstellen oder in einer Hafenbar in Hongkong, wo man in einem opiumgeschwängerten Raum einen Blick auf sie erhascht.
*
Eine Woche vor dem Prozess besuchte McCrink Doris Curran ein weiteres Mal. Am Tag davor hatte er sich bei einem Beamten des High Court in Belfast danach erkundigt, wie der Richter für den Fall McGladdery ausgewählt worden war.
»Das kommt auf die Liste an«, sagte der Beamte.
Er war ein großgewachsener, dünner Mann mit Leberflecken im Gesicht. McCrink konnte ihn nicht ansehen, ohne an Geschwüre zu denken, bösartige Wucherungen, die einen von innen zerfraßen.
»Bei einem Mordprozess muss es ein Richter des High Court sein. Und es gibt die Regel, dass im Turnus abgewechselt wird.«
»Aber kann ein Richter von sich aus verzichten?«
»Falls irgendeine persönliche Verwicklung besteht, normalerweise schon.«
»Und der Henker?«
»Verzeihung?«
»Der Henker. Wer bestimmt den Henker?«
»Der Scharfrichter wird von Her Majesty’s Inspectorate of Prisons, dem Gefängnisinspektorat, in Rücksprache mit dem Gefängnisdirektor bestimmt.«
McCrink traf kurz vor Anbruch der Dunkelheit in Holywell ein. Das Autoradio berichtete von einem Sturm mit Windstärke zehn im Norden, und die Bäume, die den Parkplatz säumten, bewegten sich, als würde sich ein unbeholfenes riesiges Wesen einen Weg durch sie pflügen. Er konnte die Fenster des Krankenhauses, seine hell und fürsorglich beleuchteten öffentlichen Gebäude durch die Büsche erkennen.
In den Gängen der Klinik war es ruhig. Ein Mann in einem weißen Nachthemd ging an ihm vorbei, seine Lippen bewegten sich, als sei er nicht bei Sinnen. Doris war nicht in ihrem Zimmer, und eine Krankenschwester führte ihn zum Tagesraum, der sich in einem Wintergarten auf der Rückseite des Gebäudes befand. Doris war allein, sie saß in einem Lehnsessel und schaute durch die Fenster des Wintergartens in die stürmische Nacht hinaus. Sie trug einen Hausmantel, ihr weißes Haar war gekämmt. Sie bedeutete ihm, neben ihr Platz zu nehmen. Sie hielt den Kopf fortwährend geneigt, und McCrink fragte sich, welche entstellte majestätische Rolle sie gerade für sich gewählt hatte. Der geflieste Raum schien angefüllt mit ihrer Verrücktheit. Er erinnerte sich an eine Wendung aus einem der Fachbücher: Wahnvorstellungen von hoher Geburt.
»Guten Abend. Bitte nehmen Sie Platz«, sagte sie.
Ihr Tonfall war bestimmt. Es gab formelle Grenzen, an die man sich halten musste. Der Tisch vor ihr war mit billigem Schmuck, Fundstücken aus dem Meer und kleinen Porzellanfiguren bedeckt.
»Sind Sie von weit her gekommen?«, sagte Doris.
»Aus südlicher Richtung«, sagte er, »aus Newry.«
»Newry? Mein Mann, der Richter, ist vertraut mit diesem Teil des Landes.«
»Sie müssen sich irren. Ihr Mann ist ein Stadtmensch.«
Doris Curran wandte sich ihm zu, namenlose Boshaftigkeit in den Augen.
»Lance Curran wurde in den Bergen hinter der Stadt großgezogen. Hinter den Sümpfen, wie man sagt. Großgezogen oder mit Mühe aufgezogen?
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