Requiem: Roman (German Edition)
Zusammenbruch gehabt?«
»Ich glaub nicht. Ich hab mich nur ein bisschen danebenbenommen. Sie haben mich zwangseingewiesen. Die Ärzte haben die Formulare unterschrieben. Das ist alles. Als ich wieder rauskam, gaben sie mir die Stelle in der Bibliothek. Rieten mir, ich solle an Ort und Stelle bleiben.«
McCrink wusste, dass er nicht die ganze Wahrheit erfuhr. Wusste, dass die Stadt so nicht funktionierte. Er musste sich die Geschichte zusammensetzen, aus dem abgelagerten Dreck und Schlamm ans Tageslicht baggern.
*
Am Samstagmorgen ließ er sie schlafen und fuhr nach Castlereagh. McCrink ging ins Archiv hinunter und zeigte seinen Dienstausweis. Die Tür war unverschlossen, und er betrat das Archiv. Er bemerkte, dass diese Räume das Herz des Gebäudes waren, in dem er sich befand. Tief unter der Erde, bei regulierter Temperatur. Tausende von Leben, in grauen Aktenschränken aus Metall aufbewahrt und archiviert. Menschen, die sich selbst als gewöhnlich betrachteten, wurden umgeformt, während ihr Leben unter die Lupe genommen und ihre Post geöffnet wurde, während man sie ohne ihr Wissen fotografierte. An diesem Ort wurde der komplexe Stoff, der ihre Lebensgeschichten formte, ernst genommen. Die Relevanz ihrer Existenzen innerhalb größerer Zusammenhänge wurde anerkannt. Die Tatsache, dass sie beobachtet wurden, machte aus ihren Leben Schattenexistenzen. Nuancen wurden auf die Goldwaage gelegt, Unerklärbares erhielt Gewicht.
Er verlangte Margarets Akte. Sie war bei Treffen der Kommunistischen Partei und anderen politischen Anlässen in christlichen Hallen und Secondhand-Buchläden mit Postern von Revolutionsführern an der Wand gesehen worden. Er begriff, dass das Illegale sie immer angezogen hatte. Sie hatte Geheimnisse in ihrer beider Beziehung gehütet. Er sah sie vor sich, auf einem Klappstuhl inmitten von Gewerkschaftlern und Trotzkisten, leidenschaftlichen Männern mit Ansteckknöpfen aus Email an den Jackenkragen, gefangen in ihren Träumen vom Umbruch. Ihr ernsthaftes Gesicht. Ihr heimlichtuerischer Charakter, heimisch unter den Dogmen und Neigungen, der Entsagung.
Ihr Vater war Gewerkschaftsfunktionär gewesen. Sie war fotografiert worden, als sie mit ihm und anderen Gewerkschaftern, die sich als Figuren sahen, die Geschichte machten, durch die Stadt marschierte, eins mit der radikalen Arbeiterbewegung aus vergangenen Zeiten. Da waren Männer, die Einladungen aus der Sowjetunion und Ostdeutschland akzeptiert hatten. Man konnte in ihren Gesichtern sehen, dass sie Traktorenfabriken und Gebäude von Genossen besucht hatten. Dass sie der unerbittlichen und rußgeschwärzten Hymne aus dem Osten gehorcht hatten.
Er sah, dass sie sich in dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach geheimer Aktion am Rande der Legalität, im Dunkeln versammelt, verloren hatten. Inmitten von Gefährten, Wächtern des Geheimnisses.
Margaret hatte eine Wohnung in der Umgebung der Universität, wo sie politische Versammlungen der Studentenvereinigung besuchte. Fotos zeigten sie beim Verlassen einer Versammlung der Sozialistischen Partei. Sie war von mehreren Männern umgeben. Sie trugen Bärte, einer von ihnen hatte eine Baskenmütze auf. Sie kleideten sich wie Dissidenten, wie radikale Abweichler. Sie versuchten, die Welt davon zu überzeugen, dass sie eine Befreiungsfront gegründet hatten. Sahen sich selbst in historischem Sinn als im Exil lebende Radikale, Anstifter am Rand. Zwei aus der Gruppe wurden in der Akte als Informanten für den Sicherheitsdienst benannt. Einige von ihnen waren an einschlägig bekannten Treffpunkten für Homosexuelle gesehen worden, in Männertoiletten und am Ufer des Kanals. McCrink fragte sich, mit welchen sie geschlafen hatte. Er wusste, sie liebte die Gefahr, das Risiko, entdeckt zu werden.
Ihre Einweisung ins Krankenhaus in Downshire war vermerkt, auch die Dauer ihrer Behandlung. Er las, dass sie »in die Obhut ihrer Eltern« entlassen worden war und »keine weiteren staatsfeindlichen Kontakte« beobachtet werden konnten.
McCrink zog Speers Akte heraus. Er fand Eintragungen von Verabredungen mit den Frauen anderer Männer, ein roter Faden der Geschmacklosigkeit, der sich durch die ansonsten steile Karriere zog. 1955 war dieser Aufstieg zum Stillstand gekommen. Speers war in einem Hotel in Bangor mit einer Minderjährigen erwischt worden. »Keine weiteren Schritte« waren unternommen worden. Es war nicht nötig, weitere Schritte zu unternehmen, dachte McCrink, von nun an würde Speers genau
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