Rescue me - Ganz nah am Abgrund
stickigen Luft, die hier im Zimmer herrschte, versuchte er sich einzureden.
Tyler schien sein Starren nicht bemerkt zu haben. In aller Seelenruhe griff er nach einem Glimmstängel, aber Ryan ließ nicht zu, dass er ihn sich auch anzündete.
„Lass die Raucherei! Lauf lieber runter, hol die Trittleiter.“ Hektisch mit den Händen wedelnd, scheuchte er ihn vor sich her, Richtung Tür.
„Dein Aktionismus ist nicht zum Aushalten!“, murrte Tyler laut, bevor er – oh Wunder! – gehorchte.
Ryan sah ihm nach, wie er aus dem Zimmer verschwand. War er früher auch schon so muskulös gewesen? Er versuchte, sich zu erinnern. Damals spielte Tyler im Baseball-Team der Highschool, aber da war er noch nicht ganz so groß und eher schlaksig gewesen. Doch jetzt, ohne seine Lederkluft, nur in diesen Shorts – oh Mann, oh Mann! Wo hatte der diese Muskeln her? Vom Rumhocken auf dem Sitzsack bestimmt nicht.
„Hier, Sklaventreiber. Zufrieden?“, tönte es von draußen, bevor Tyler, nur mit einer schwarzen Jeans bekleidet und der Leiter über dem Arm, wieder hereinschneite.
Ryan blinzelte bei diesem Anblick nervös und begann schnell, den Sack aufs Bett zu wuchten. „Wie? Was? Oh ja!“
Gemeinsam fingen sie an, die Fußleisten, Türen und Fenster abzukleben. Tyler zwar in einem Tempo, das dem einer Schnecke angemessen war, doch er tat es. Er schob sogar sein Bett von der Wand, ohne dass Ryan ihn lange bitten musste.
Jetzt war Ryan zufrieden, nun konnte es losgehen. Er öffnete die Eimer und begann, darin herumzurühren.
„Hier. Dieses Bordeaux ist für die beiden Wände, das Dunkelgrau für die anderen.“ Mit zwei, drei Strichen zeigte er Tyler, wie er sich die Farbverteilung vorstellte. „Und da oben fangen wir an, die Decke wird hellgrau gestrichen.“ Schon tunkte er die große Rolle in den Eimer und begann, die Farbe auf die schwarze Fläche aufzurollen.
Als Tyler Anstalten machte, sich einfach auf der Erde niederzulassen, ließ Ryan die Stange wieder sinken. „Mann Tyler! Beweg dich!“ Ungeduldig drückte er ihm einen Pinsel in die Hand. „Mach dich nützlich. Streich die Kanten und die Ecken vor.“
Schweigend rollte er Bahn für Bahn. Hin und wieder warf er Tyler heimliche Blicke zu, während der mit gleichmäßigen Bewegungen die schmalen Stücke Tapete um und über dem Wandschrank vorpinselte. Sein langes Haar hing ihm wirr über den Rücken. Ryan hielt inne. Beobachtete, wie sich Tylers Muskeln bei jedem Auf und Ab seiner Arme bewegten.
„Treibst du heimlich Sport oder was?“
Tyler warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Wieso?“
„Äh … Nur so. Äh … du hast Arme.“
Tyler ließ den Pinsel sinken und grinste spöttisch um seine Kippe herum. „Ich hab’ Arme? Zwei Stück sogar. Bist ja immer noch der Blitzmerker.“
Er spürte, wie er wieder mal rot anlief. „Ich wollte sagen, du hast Muskeln. Wo hast du die her?“
„Herbeigerufen. Bei einer satanischen Beschwörung!“ Dramatisch rollte Tyler mit den Augäpfeln und gab seiner Stimme einen gruseligen Klang. „Nachts auf dem Friedhof, nachdem ich ein Blutopfer dargebracht habe. Solltest du Hänfling auch mal versuchen.“
„Du bist so ein Blödmann!“ Lachend stupste Ryan ihn mit der farbverschmierten Rolle an die glatte Brust. Als sich ihre Blicke trafen, blieb ihm das Lachen in der Kehle stecken. Sie sahen sich an. Eine Sekunde verging, eine weitere. Mit einem flapsigen Spruch wollte Ryan die Situation entschärfen, doch sein Kopf war wie leer gefegt. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Das da war Tyler. Den er seit siebzehn Jahren kannte.
Unwillkürlich wich er nach hinten und stieß dabei gegen die Leiter. Das Scheppern riss ihn aus diesem merkwürdigen Zustand.
Langsam wandte Tyler sich ab und strich weiter. Dass er ihn nicht wieder ansah, oder gar mit ihm sprach, brauchte ja wohl nicht extra erwähnt werden.
Spät am Abend waren sie endlich fertig.
Wände und Decke hatten jeweils zwei Anstriche bekommen und alle Möbel standen wieder an ihren Plätzen. Jetzt, vor dem dunklen Rot und dem Grau, sah der schwarze Lack der Möbel sogar ziemlich cool aus.
Erledigt ließ Ryan sich auf den Sitzsack fallen, rundum mit sich und dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden. „So. Nun sag mir, dass dir Schwarz besser gefiel.“
„Mir gefiel Schwarz besser.“
„Du lügst.“ Er sah zu Tyler hoch. Der hockte auf dem Schreibtisch, Farbkleckse im Haar und auf dem nackten Oberkörper, doch Ryan wusste, er sah nicht viel
Weitere Kostenlose Bücher