Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
unters Kinn und sah mich eindringlich an. „Übrigens: Solltest du das noch mal machen – was ich dir nicht rate –, dann zieh lieber Gummistiefel an. Am besten hüfthohe Anglerstiefel. Mom sagt immer, das ist die einzige Möglichkeit, eine Begegnung mit Klingenweizen unbeschadet zu überstehen.“
Ich nickte stumm und verzichtete darauf, mit meiner Seitwärtsprozedur anzugeben. Schließlich hatte ich keinerlei Ambitionen, diese Fähigkeit noch ein zweites Mal zum Einsatz zu bringen. Jedenfalls nicht, solange es sich verhindern ließ.
Die Idee mit den Anglerstiefeln klang trotzdem ziemlich gut …
„Wenn in der Unterwelt irgendwo ein Feld voller Klingenweizen wächst, dann heißt das doch, dass lange niemand mehrdort war, stimmt’s?“
„Es bedeutet nur, dass dort nicht genug los ist, um das Wachstum zu hemmen“, erklärte Nash, während wir hinter Todd zum Stadion liefen. „Wahrscheinlich hat dein Dad sich deshalb für diese Wohngegend entschieden.“
Das war gut möglich. Mein Vater wollte mich wahrscheinlich beschützen, indem er mich von den Zentren der Unterweltsaktivität fernhielt.
Und ich hatte ihn auch noch angeschrien. Die Erinnerung daran versetzte mir einen Stich. Zugegeben, er konnte eine richtige Nervensäge sein, aber das lag nur daran, dass ich nicht ehrlich mit ihm war. Es war wirklich nicht seine Schuld. Wenn das ganze Schlamassel hier vorbei war und die Lügerei ein Ende hatte, würde ich ihm ein ganzes Blech Brownies backen. Denn mit Schokolade kann man sich viel besser entschuldigen als ohne.
„Bloß weil es hier keinen Klingenweizen gibt, heißt das nicht, dass die Pflanzen alle harmlos sind.“ Nash klang gereizt. Er hatte genauso wenig Lust auf die Unterwelt wie ich. „Fass ja nichts an, hörst du?“
„Sind denn alle Pflanzen gefährlich?“
Todd wandte sich um und ging rückwärts weiter, sodass er uns ansehen konnte. Dabei lief er einfach durch Metallsperren und Laternenpfosten hindurch. „In der Unterwelt scheint die Sonne nicht so hell wie hier. Das Licht ist irgendwie … gefiltert. Kraftlos. Die Pflanzen haben sich daran gewöhnt und Blut in ihren Speiseplan aufgenommen. Es stammt meistens von Schädlingen, Nagetieren und Eidechsen. Aber dein Blut nehmen sie auch, wenn du nicht aufpasst!“
Na reizend. Das wurde ja immer schöner. Ich hasste die Unterwelt jetzt schon. „Das klingt ja fast wie im Musical‚Der Kleine Horrorladen‘ mit der fleischfressenden Pflanze.“
Todd stieß einen abfälligen Laut aus. „Das war aber nur eine Pflanze.“
Ich betrat den Gehsteig vor dem Stadion und versuchte, die Angst zu überspielen, die durch meine Adern pumpte. „Die Devise lautet also: Nichts anfassen, und Finger weg von den Pflanzen?“
„Genau.“ Todd nickte zufrieden. „Und jetzt lasst uns anfangen. Die Zeit läuft uns davon, und zwar in beiden Welten.“
Wir blieben stehen, und ich schloss die Augen. Dieses Mal fiel es mir noch leichter, den Klageruf anzustimmen. Zu meinem Erstaunen – und Schrecken zugleich – musste ich dafür nicht einmal an einen tatsächlichen Todesfall denken. Stattdessen zwang ich mich dazu, den Albtraum zu durchleben, der sich wie eine blutgetränkte Knospe in meinem Kopf entfaltete: Nashs Tod.
Es war keine Vorahnung, das wusste ich sofort, als die ersten Bilder vor meinem geistigen Auge auftauchten. Ich ahnte Nashs Tod nicht voraus, ich stellte ihn mir nur in all seinen grausamen Details vor. Es war mein ganz privates Horrorszenario und erweckte einen so starken Schrei, dass schon die ersten, zarten Töne wie lodernde Flammen in meinem Hals brannten.
Wie gerne hätte ich die Flammen ausgespuckt, meinen Körper von diesem Wahnsinn befreit. Aber stattdessen schluckte ich sie so weit hinunter, dass nur ein paar leise Töne meine Stimmbänder passieren und durch meine geschlossenen Lippen dringen konnten. Das Brennen in meiner Kehle wurde schlimmer, und als ich die Augen öffnete, verhüllte ein grauer Schleier die Umgebung.
Das Stadion war noch da; es ragte wie ein kuppelförmiger Pilz aus Stahl und Beton aus dem Boden. Doch ein unwirklicherNebel umhüllte die Stahlträger und Tribünen.
Nashs Blick war voller Angst. Angst um mich, Angst um uns alle.
Todd dagegen schien Zweifel zu hegen, ob ich es schaffen würde, die Welten zu wechseln – und Nash mitzunehmen. Seine Zweifel stachelten meine Entschlossenheit nur noch mehr an. Ich ignorierte meinen brennenden Hals und den schrecklichen Druck im Bauch, unter dem meine
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