Rettungskreuzer Ikarus Band 004 - Die Spielhölle
schon vor Generationen mangels Gebrauch verkümmert
waren.
Nachdem es Jason anfangs als peinlich empfunden hatte, dass Shilla seine intimsten
Gedanken lesen konnte – ob sie auch von seinem Reinfall auf Elysium wusste? –, hatte er sich mittlerweile daran gewöhnt, dass sie ihm
in seinem Kopf Gesellschaft leistete. Sie behauptete zwar, dass ihr die Regeln
der Höflichkeit geboten nicht zu schnüffeln, doch hatte er sich selbst
ein wenig diszipliniert, nicht jeden Gedanken an die Oberfläche dringen
zu lassen. Die Fähigkeit, Überlegungen für sich zu behalten,
war sicher ganz nützlich bei Verhandlungen mit Telepathen oder Empathen,
die nicht merken sollten, wenn Jason sie bei einem Geschäft gründlich
über den Tisch zu ziehen beabsichtigte. Manchmal versuchte er spaßeshalber,
Shilla mit falschen Gedanken, die seine wahren Absichten verbergen sollten,
hereinzulegen, doch das hatte noch nie geklappt.
Obschon sich Jason Shilla gedanklich mitteilen konnte, zog er es vor zu sprechen.
Es war eine Frage der Gewohnheit, und hören konnte sie ausgezeichnet –
nicht, dass auch noch ihre hübschen, spitzen Ohren verkümmerten. »Was
meinst du?«, erkundigte er sich mit erhobener Stimme, um den Radau zu übertönen.
Der Barraum war hoffnungslos überfüllt. Humanoide und fremdartige
Kreaturen, wie sie selbst Jason noch nie gesehen hatte in all den Jahren, die
er als freier Händler von einem Winkel der Galaxis bis zum anderen gekreuzt
war, drängten sich dicht an dicht wie ein lebendiger Teppich. Einige brachten
das Kunststück fertig, in dieser Enge zu einer infernalisch heulenden Musik
mit wild fuchtelnden Extremitäten zu tanzen. Wie viele Zuschauer mochten
wohl ein blaues Auge, eine platte Nase oder das entsprechende lädierte
Pendant davontragen, weil ein Tentakel zufällig nicht ins Leere ging? Andere
unterhielten sich mittels plärrender Translatoren. Es war nahezu unmöglich,
das gesprochene Wort des Nebenmannes zu verstehen oder etwas Bestimmtes zu hören,
wenn man nicht mit dem Ohr am Mund des Gesprächpartners klebte und diesen
hineinbrüllen ließ.
Offensichtlich verfügte Shilla über ein feineres Gehör als er,
denn Jason vernahm nur das gleich bleibende Lärmen, aber nichts Ungewöhnliches.
Wieder einmal wunderte er sich, womit ihn die Vizianerin noch überraschen
würde. Sie erinnerte ihn an ein Puzzle, das er gerade erst begonnen hatte
und von dem er nicht wusste, ob er überhaupt alle Teile finden und an die
richtige Stelle platzieren konnte, um ein fertiges Bild zu erhalten. Nur tröpfchenweise
erzählte Shilla von sich und ihrem Volk, eigentlich bloß dann, wenn
sie direkt gefragt wurde, jedoch niemals mehr, als unbedingt nötig. Sonderbar,
fand Jason, und noch sonderbarer war: Er kannte Shilla erst seit wenigen Monaten,
wusste fast nichts über sie – trotzdem vertraute er ihr. Sie war sein
bester Freund.
»Das Jaulen. Ist das Musik? Es klingt ... seltsam ... und bedrohlich.«
Jason zuckte mit den Schultern. »Wer weiß schon, was den modernen
Künstlern nicht alles einfällt. Ich hatte mal eine Ladung Musikkristalle
mit den Sinfonien des berühmten m'us-ianischen Komponisten H'ay-no. Natürlich
wollte ich wissen, was ich da verhökere, also spielte ich einen der Kristalle
ab. Zunächst hörte ich gar nichts, da die M'us-ianer im Ultraschallbereich
kommunizieren, singen und selbstverständlich auch Musik machen. Als ich
den Translator hinzuschaltete, fielen mir fast die Ohren ab. Mist, dachte ich,
diesmal bist du der Geleimte, das Zeug kriegst du nirgends los. Aber dann, stell
dir vor, hatte ich ein Rendezvous mit einem Lazarett-Schiff, das die überlebenden
Kolonisten von Efjoierw III zu einer Klinik brachte. Die Gehirne der armen Teufel
hatten auf die intensive Strahlung der Sonne Efjoierw reagiert, und in Folge
waren alle wahnsinnig geworden. Zufällig hatte ein Mediziner entdeckt,
dass H'ay-nos Gejodel genau im richtigen Frequenzbereich liegt und seine Musik
die Therapie unterstützt. Sie kauften mir die komplette Ladung ab, und
ich war um einige tausend Credits reicher.«
Jasons Beifall heischendes Lächeln gefror zu einer schiefen Grimasse. Irgendetwas
hätte Shilla ruhig erwidern können, oder nicht? Immer war sie so ernst
und steif. Zum – ... nein, den Gedanken unterdrückte er besser. Missmutig
ließ er den Blick über die anwesenden Gäste schweifen, während
er an seinem
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