Rettungskreuzer Ikarus Band 019 - Die Knotenwelt
Masse lernt ihre Erzeuger gar nicht kennen. Sie wird von staatlichen Organisationen
erzogen. Aufgezogen. Wie auch immer du es nennen magst. Und bei dieser Erziehung
bleibt wenig Möglichkeit zum Widerstand. Kreativität, eigenständiges
Denken, alles was den eigenen Verstand fordert und fördert, wird nur in
Ausnahmefällen gestattet. Es ist den Herrschern offenbar bewusst, dass
wir, wenn es keine Möglichkeiten zur Ablenkung gäbe, dahinvegetieren
und womöglich sterben würden. Also werden in gewissen Grenzen Freiheiten
eingeräumt oder einfach nicht geahndet, wenn diese Grenzen überschritten
werden. Und es werden Ausnahmen geschaffen. Ausnahmen, die es einzelnen gestatten,
älter zu werden. Wenige Ausnahmen und vor allem solche, die nicht auf Verrat
oder Anbiederung beruhen. Lehrer, Handwerker, Künstler, alle die Wissen
weiter geben können. Die Kenntnisse vermitteln, die auch in den nächsten
Generationen noch benötigt werden.«
Die beiden hatten ein Laufband betreten, stellten aber fest, dass sie trotzdem
selber weitergehen mussten.
»Aber was hat das mit rostigen Wänden oder«, Jason deutete auf
das Laufband, »nicht funktionierender Technik zu tun?«
»Wie ich gesagt habe: Du kannst es nicht verstehen«, erwiderte Taisho
und fuhr fort, »Wenn du wüsstest, dass du fünfunddreißig
Jahre alt wirst. Dass es nur wenige Möglichkeiten gibt, älter zu werden.
Und keine davon beinhaltet das Instandsetzen oder –halten von Anlagen,
Schönheitsreparaturen oder sonstige Aufgaben, die dem Wohl der Allgemeinheit
dienen. Wärest du dann besonders motiviert, die dir übertragenen Aufgaben
zu erfüllen?«
»Aber was war mit Reputus?«, stellte Jason nach einigen Minuten schweigenden
Laufens eine weitere Frage.
»Was soll damit gewesen sein?«
»Du hast dort ... Na gut, das mag Tarnung gewesen sein, aber du warst Page,
angestellt in dem Hotel. Wie viele andere auch. Das ist doch eine Dienstleistung,
die noch viel weniger honoriert wird? Wen interessiert schon, wer die Wäsche
reinigt, die Zimmer sauber hält und sonstige Kleinigkeiten?«
»Oh, da täuschst du dich! Arbeiten, egal welche, in einem Hotel sind
hoch angesehen. Immerhin besteht dort wenigstens eine minimale Chance, jemandem
zu begegnen, der vielleicht Einfluss hat. Oder wer oder was auch sonst immer
notwendig ist, um die Genehmigung zum Älter werden zu bekommen.«
»Ist das nicht auf einem Raumhafen«, Jason deutete auf die sich in
der Ferne abzeichnende Halle. »ebenso? Ist dort die Wahrscheinlichkeit
nicht noch größer?«
»Grundsätzlich schon. Aber wie schon gesagt: Bestimmte Arbeiten, vielleicht
noch dazu in Bereichen, in denen garantiert kaum entsprechende Wesen auftauchen
werden, spielen da eine untergeordnete Rolle. Nicht zu vergessen, die armen
Schweine, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben. Nur noch vor sich hin
leben. Keine Hoffnung haben und gerade noch mechanisch die nötigsten Dinge
erledigen.«
Wieder herrschte einige Minuten Schweigen zwischen den beiden Männern.
Minuten, in denen sie einer Halle näher kamen, in der die Geräuschkulisse
auf das Vorhandensein von Lebewesen hindeutete. Seit sie den Aufzug verlassen
und den fensterlosen Gang entlang gelaufen waren, war ihnen weder jemand entgegen
gekommen, noch mit ihnen in die gleiche Richtung unterwegs gewesen.
Als sie aus dem Gang auf einen breiten Balkon in die Halle hinaustraten, wandte
Jason sich an Taisho, ohne den Trubel, der in den diversen Stockwerken unter
ihnen herrschte, zu beachten, und sagte, »Du hast wahrscheinlich Recht.
Ich kann das bestenfalls versuchen zu verstehen. Aber das alles ist so fremd,
so unwahrscheinlich. Bisher ging ich einfach davon aus, dass die Outsider, die
Angeli, euch unterdrücken. Zu Unrecht über euch herrschen und euer
Leben bestimmen. Dass sie dabei auch über euer Sterben entscheiden, und
was sonst alles damit zusammen hängt, darüber hatte ich mir nicht
wirklich Gedanken gemacht. Aber selbst jetzt, da ich weiß, was alles von
diesen Angeli festgelegt wird ...«, Jason zuckte mit den Schultern.
Taisho nickte und betrachtete dann versonnen das Gewimmel unter ihnen.
»Du solltest froh sein, es nicht verstehen zu können. Denn wenn du
es könntest, wärest du dann fähig das zu tun, was du tust?«
»Wie schaffst du es, Taisho? Was bewegt dich, treibt dich an?«
Dieses Mal war es an Taisho, mit den Schultern zu zucken. Er lächelte
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