Return Man: Roman (German Edition)
einem heftigen Ruck des Kopfs zu. Ein brauner Brei quoll ihm zwischen den Zähnen hervor.
Marco schauderte. Kermit der Frosch hatte Pech gehabt. Das war das Problem mit Verstecken– sowohl unten im Schlamm als auch oben im Baum.
Man wiegt sich in Sicherheit, bis man feststellt, dass es doch nur eine trügerische Sicherheit ist.
Marcos Halswirbel knackten, als er den Wald unter und neben sich inspizierte und nach ungewöhnlichen Schatten zwischen den geraden dunklen Stämmen suchte. Er lauschte nach den Geräuschen von Füßen, die durch totes Laub schlurften. Doch er hörte und sah nichts Verdächtiges. Selbst die Luft schien an diesem Morgen rein zu sein und trug im Nieselregen die unverfälschten Gerüche des Waldes heran.
Doch er war trotzdem besorgt, denn die Toten vermochten sich auch gut zu verstecken. Manchmal schienen sie förmlich wie aus dem Nichts aufzutauchen. Und aus Erfahrung wussteer, dass ein Gewehrschuss eine ganze Horde anziehen konnte.
Auch wenn der Wald sich schier endlos auszudehnen schien, die Stadt Wilson lag direkt auf der anderen Seite des Bergs, ungefähr acht Kilometer die Route 78 entlang. Wilson mit seinen fünftausend Einwohnern– ehemals fünftausend Einwohnern–, eine Oase in der Wildnis von Montana, in der die Leute, die früher am See ihre Sommerferien verbracht hatten, sich mit Vorräten eingedeckt hatten.
Der Lebensmittelladen, das Kino, die Videothek, deren Sortiment zum größten Teil noch aus VHS -Kassetten bestand. Marco hatte der Versuchung widerstanden, auf dem Marsch der Stadt einen Besuch abzustatten, um seine Vorräte aufzustocken. Stattdessen hatte er sie in einem großen Bogen umgangen. Orte wie Wilson bedeuteten Gefahr. Gott bewahre, dass er fünftausend Leichen aufweckte. Zumal sie, soweit er wusste, ohnehin schon hier draußen waren und Waldspaziergänge unternahmen. Jedes unvorsichtige Geräusch konnte eine Meute anlocken, die dann wie ein Rudel Hunde um seinen Baum herumtobte, und er würde Kugeln verschwenden müssen– oder noch schlimmer, es würden schließlich so viele kommen, dass ihm die Munition ausging. Er würde hier festsitzen, während Wilson eine gottverdammte Bürgerversammlung unter ihm abhielt.
Verdammt. Er wollte erst auf Nummer sicher gehen, bevor er etwas unternahm.
Er konzentrierte sich auf die Erinnerung an das Fotoalbum, das Joan Roark ihm gezeigt hatte. Der Lebensweg eines Menschen. Ein jüngerer und schlankerer Andrew Roark– selbst die Nase wirkte kleiner– im weißen Smoking an seinem Hochzeitstag, das schwarze Haar straff zurückgekämmt, eine Zigarette im grinsenden Gesicht. Roark im Lauf der Jahre, während er älter wurde und an Gewicht zulegte, sich besser kleidete und in einem schöneren Haus wohnte. Geburtstage, Weihnachtsfeiern, Halloween in einem Vogelscheuchenkostüm mit den Kindern. Dann Roark wieder mit Mitte fünfzig, an einem Banketttisch, mit einem strahlenden Lächeln, den Arm um Joan gelegt, vor ihnen Champagnergläser auf einem weißen Tischtuch. Er hielt drei Finger in die Kamera. » Unser dreißigster Hochzeitstag«, hatte Joan gesagt.
Und ihr letzter.
Aber es waren die Urlaubsbilder, an die Marco sich am lebhaftesten erinnerte. Eine Bilderchronik, die Jahrzehnte umspann. Andrew und Joan am See. Auf den ersten Fotos waren nur die beiden allein zu sehen, als frisch Vermählte. In einem Kanu, am Strand, in einer Hängematte auf der Veranda einer Ferienhütte aneinandergekuschelt. Dann kam ein Kind dazu, und dann noch eins. Die Kinder wurden älter, und dann waren es schon Enkelkinder, die Schlauchboot fuhren, auf dem Rasen herumtollten und am Dock mit Roark angelten. Auf einem der letzten Bilder waren Joan und Andrew wieder im Kanu zu sehen und winkten in die Kamera.
Lake Onahoe war ihr Urlaubsziel. Jeden Juli, dreißig Sommer lang. » Er hat ihn so geliebt«, hatte Joan gesagt. » Er konnte es nicht erwarten, bis der Juni vorbei war und er endlich wieder zum See fahren konnte.«
Aus diesem Grund hatte Marco auch die Reise nach Montana unternommen. Er hatte schon drei Wochen mit zwei erfolglosen Suchaktionen vergeudet. Zuerst Roarks Heimatstadt und dann sein Büro in Seattle.
Doch an diesem Ort schien er nun den Jackpot geknackt zu haben.
Roarks Leiche war fast fünfhundert Kilometer weit gewandert, nur um hier zu verrotten.
Alle Toten machten das. Sie suchten sich irgendeinen Ort aus, an dem sie dann ihr Unwesen trieben. Das war allerdings keine bewusste Entscheidung; die Leichen besaßen nämlich kein
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