Return Man: Roman (German Edition)
Schmerzens- und Schreckensschreien verzogen und im Augenblick des Todes gefroren. Männer und Frauen. Und auch kleine Skelette mit Nagespuren. Kinder. Dreißig bis vierzig Leute hatten ihr Leben gelassen, als Leichen den Zug eroberten. In den Essabteilen lagen auch Leichen– Fahrgäste, die getötet worden waren, als sie sich unter den Tischen versteckt oder versucht hatten, die Fensterscheiben einzuschlagen.
» Willkommen im Speisewagen«, sagte Wu. Er klang aber todernst.
Der Boden war von einer mehrere Zentimeter dicken Schicht aus Blut und Eingeweiden bedeckt. Sie war im Lauf der Zeit zu einer festen Masse ausgehärtet. Die Menschen waren seit Jahren tot, und ihre Körper waren ausgetrocknet und farblos. Wirbelsäulen waren gebrochen und Gehirne zermatscht. Diese Opfer waren zu schnell verschlungen und zu stark verstümmelt worden, um wiederaufzuerstehen.
Und es roch auch muffig– die Leichen verströmten ein modriges, übel riechendes Gas. Das waren die Moleküle von zersetztem weichem Gewebe, mit denen die Luft geschwängert war. Marco hustete und steckte die Nase in die Armbeuge. Bei dem Anblick wurde ihm schlecht, und zugleich beschleunigte sich sein Herzschlag.
» Scheiße«, sagte er. » Wir sollten zurückgehen.«
» Wieso denn? Diese Leichen bewegen sich doch nicht.«
» Kommen Sie schon, Mann«, sagte Marco mit Nachdruck. » Was glauben Sie wohl, was hier passiert ist? An einer Lebensmittelvergiftung sind die Leute bestimmt nicht gestorben. Hier muss ein Mini-Ausbruch stattgefunden haben– irgendein Passagier mit der Auferstehung hat alle anderen angesteckt. Und die Leichen, die das getan haben, sind noch irgendwo im Zug. Unter Garantie.«
» Ich verstehe, Doktor. Zum Glück brauchen wir aber nur diesen einen Waggon.«
» Mein Gott– wie viele Lektionen in Sachen Sicherheit muss ich Ihnen heute denn noch erteilen?«
Wu schob sich im Durchgang an Marco vorbei in den Speisewagen und stieß ihm dabei gegen die Schulter. Die Taschenlampe leuchtete die Dunkelheit aus und strahlte weitere gespenstische Tische an, die mit grauen Tischtüchern bedeckt waren. Dann fiel der Schein auf einen Servierwagen.
» Wu«, sagte Marco knurrend. » Kommen Sie verdammt noch mal zurück. Wir müssen gehen.«
Wu ging weiter und stieg über Knochen hinweg.
Arschloch. Genau das war es, was Marco so hasste– sturen militärischen Blödsinn, der alle in tödliche Gefahr brachte. Er zog schon in Erwägung, zum Jeep zu gehen und Wu zurückzulassen. Dann würde er gemütlich im Auto sitzen und warten, bis das Geschrei losging. Doch was dann? Sollte er ihm wieder zu Hilfe kommen? Oder einfach abhauen?
Er lief vor Scham rot an. Jetzt reiß dich aber mal zusammen, sagte er sich.
Er schüttelte den Kopf und seufzte.
Wie auch immer. Ich glaube fast, dieser militärische Scheiß ist ansteckend.
Er umklammerte die Brechstange, ging zur Lücke im Durchgang und verdrehte die Augen beim Anblick eines kleinen weißen Schilds.
Vorsicht Stufe
Sehr witzig, dachte er. Es knirschte, als er mit dem Stiefel auf die Blutkruste im Eingang trat, und der Geruch des Todes wurde noch intensiver. Er folgte Wu durch den Waggon.
Marco wurde von tausend Fliegen umschwirrt. Sie flogen ihm ins Gesicht, und er versuchte, sie zu verscheuchen. Er presste die Lippen zusammen, damit sie ihm nicht auch noch in den Mund flogen. Er staunte darüber, wie lange sie hier schon überlebt hatten: Generationen von Fliegen hatten sich in die Leichen gefressen und sich dort eingenistet. Auch wenn jede Fliege nur eine Lebenserwartung von ein paar Tagen hatte, hatten sie ihre Pflicht getan und die Toten weiter abgefressen. Hatten Eier gelegt. Dann waren sie gestorben und hatten einer neuen Generation das Leben geschenkt– und dieser Kreislauf hatte sich ständig wiederholt, vier Jahre lang hier in diesem Zug, von der Außenwelt abgeschnitten. Die erste Generation war Zeuge des Massakers geworden, hatte sich an frischem Blut und saftigen, noch zuckenden Organen gelabt. Doch diese Fliegen wussten nichts von den damaligen paradiesischen Zuständen.
Das ist die Normalität für sie, dachte Marco. Ein anderes Leben haben sie nie gekannt.
Sie waren in ein stummes Knochenland geboren worden.
Wie lange, fragte er sich, wird es wohl noch dauern, bis es uns genauso ergeht? Eine Generation? Irgendwann wird sich niemand mehr daran erinnern, wie dieser Planet vor der Auferstehung war.
Desillusioniert ging er weiter. Obwohl er sich vorsichtig bewegte, stolperte er
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