Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
erkennen, ob es sich dabei um eine Flüssigkeit oder um schwarze Kristalle handelte.
»Leugnen wäre in diesem Moment wahrscheinlich zwecklos.« Er nickte, und sie spürte, wie zumindest ein Teil einer erdrückenden Last von ihren Schultern abfiel. »Ja, es ist eine Waffe. Ein Schieberkiller.«
»Bis heute hätte ich gesagt, so etwas kann es nicht geben.«
»Es dürfte auch nicht so einfach gewesen sein, ihn herzustellen. Obwohl schon unzählige biologische Organismen in die Schieberozeane eingegangen sind, hatte noch keiner etwas bei sich, was die Schieber nicht assimilieren und unschädlich machen konnten. Einige dieser Wesen hatten ohne Zweifel die Absicht, sie zu verletzen, vielleicht nur, um ihre morbide Neugier zu befriedigen. Aber keinem ist es gelungen. Natürlich kann man die Schieber mit Gewalt töten …« Er schaute zur Seemauer zurück. Die Pilzwolke verzog sich allmählich. »Aber das ist nicht erstrebenswert. Viel zu plump. Das Ding hier arbeitet dagegen mit einer heimtückischen Eleganz. Es macht sich einen logischen Fehler in den schiebereigenen Algorithmen zur Informationsverarbeitung zunutze. Nein, es wurde ganz bestimmt nicht von Menschen erfunden. Wir sind klug, aber so klug sind wir doch nicht.«
Naqi bemühte sich, seinen Redefluss in Gang zu halten. »Wer hat es dann hergestellt, Weir?«
»Die Ultras haben es uns als Prototyp verkauft. Ich habe Gerüchte gehört, wonach es im obersten Raum eines stark befestigten Alien-Bauwerks gefunden wurde … Aus anderer Quelle heißt es, eine rivalisierende Schiebergruppe hätte es entwickelt. Wer weiß? Wer will es wissen? Es tut, was wir von ihm wollen. Und das ist alles, was zählt.« »Rafael, setzen Sie es nicht ein, ich bitte Sie.« »Ich muss es tun. Nur deshalb bin ich hier.« »Aber ich dachte, Sie alle lieben die Schieber.« Er strich mit den Fingern zärtlich über die Glaskugel. Sie sah erschreckend zerbrechlich aus. »Wir alle?« »Crane … Ihre Delegierten.« »Sie schon. Aber ich gehöre nicht zu ihnen.« »Sagen Sie mir doch, was das alles soll, Rafael.« »Warum können Sie nicht einfach akzeptieren, dass ich es tun muss?«
Naqi schluckte. »Wenn Sie die Schieber töten, töten Sie nicht nur eine fremde Lebensform. Sie löschen das Gedächtnis aller intelligenten Wesen, die jemals in diesen Ozean eingegangen sind.« »Genau das ist meine Absicht.« Weir warf die Glaskugel ins Meer. Sie fiel ins Wasser, tauchte kurz unter, kam wieder hoch und schwamm auf der Oberfläche. Schon war das Kügelchen von einem brackigen Schaum überzogen, graugrüne Mikroorganismen krochen darüber hin, um es zu erkunden. Einfaches Glas von zwei Millimetern Dicke wurde in etwa dreißig Minuten von Schiebererosion zerfressen … Naqi nahm allerdings an, dass es sich hier nicht um einfaches Glas handelte, sondern um ein Material, das sich sehr viel schneller zersetzte.
Sie ließ sich wieder auf den Sitz hinter dem Steuer fallen, gab Schub und setzte ihr Boot so neben das Boot von Weir, dass die Kugel zwischen den beiden schwamm. Dann stoppte sie mit aller Vorsicht, um auf keinen Fall seinen Rumpf zu berühren, und beugte sich so weit hinaus, wie es möglich war, ohne ins Meer zu fallen. Sie konnte die Kugel mit den Fingerspitzen berühren, aber – es war zum Verrücktwerden – sie bekam sie nicht zu fassen. Sie reckte sich mit dem Mut der Verzweiflung noch ein wenig mehr, doch da trieb die Kugel davon und war endgültig außer Reichweite. Weir sah ihr gleichmütig zu.
Naqi glitt ins Wasser. Die Schieberorganismen leckten an ihrem Kinn, an ihrer Nase. Aus dieser Nähe war der Geruch plötzlich überwältigend stark. Sie fürchtete sich zu Tode. Es war seit Minas Tod das erste Mal, dass sie ins Wasser gestiegen war.
Sie fing die Kugel ein und nahm sie so behutsam wie ein seltenes Vogelei zwischen die Finger.
Das Glas war bereits so porös wie Bimsstein.
Sie hob ihre Beute hoch und zeigte sie Weir.
»Ich lasse nicht zu, dass Sie das tun, Rafael.«
»Ich bewundere Ihr Engagement.«
»Es ist nicht nur das. Meine Schwester befindet sich hier, in diesem Ozean. Und ich werde nicht zulassen, dass Sie sie mir wegnehmen.«
Weir griff in seine Tasche und förderte eine weitere Kugel zutage.
Sie rasten in Naqis Boot vom Knoten weg. Die neue Kugel ruhte in seiner Hand wie ein Geschenk. Noch hatte er sie nicht ins Meer geworfen, aber es konnte jeden Moment dazu kommen. Sie waren jetzt weit von allen Knoten entfernt, doch früher oder später musste die Kugel
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