Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 1 (German Edition)
Mit lähmender Angst starrte sie auf die beiden kleinen Wundmale am Hals des Dunkelelfen und auf das dunkle Blut, das ohne Unterlass aus den Wunden hervortrat und in zwei Bahnen zu Boden tropfte.
Auriel hatte schon viele finstere Wesen kennengelernt und wusste, wie man mit den meisten von ihnen umgehen musste. Wenngleich auch sie selbst auf den dunklen Pfaden der schwarzen Künste wandelte, so hatte sie dennoch Angst und Respekt vor der Macht eines Vampirs. Vampire waren selten anzutreffen und untote, finstere Wesen, die keiner Gesetzmäßigkeit folgten. Ihr Herr war meist die Finsternis selbst. Man konnte einen Vampir nicht als Verbündeten gewinnen und ihn nur sehr schwer vernichten.
Im Gegensatz zu den lichten Wesen Thargannions, auf deren Seite die Verbündeten stets klar definiert waren, bestand auf der finsteren Seite eine ewige Konkurrenz. Jeder konnte Feind oder Verbündeter sein – Freundschaft dagegen fand man fast nie, auch nicht unter den Menschen, welche die schwarzen Künste verehrten.
Rhavîn allerdings, das wusste Auriel in diesem Moment, wäre ihr ein Freund geworden, womöglich der einzige, dem sie in ihrem ganzen Leben begegnen würde.
Ich darf ihn nicht verlieren. Die Götter haben mich nicht ohne Grund zu ihm geschickt. Ich sehe ihn schließlich jede Nacht vor mir! Diese Erscheinungen müssen doch einen Sinn haben. Es darf nicht so enden. Ich muss ihn retten ...
Die Panik in Auriels Brust wurde unerträglich, die todesahnende Spannung im Raum beinah greifbar. Die junge Frau fühlte sich, als steckte ein Dolch in ihrem Rücken, dessen vergiftete Klinge sie lähmte. Wie die Klauen einer Bestie wühlte der Schmerz in ihrer Seele, Angst zerfurchte ihre Gedanken.
„Rhavîn!“ Auriel wurde zornig. Sie rüttelte an dem Dunkelelfen, drehte ihn schließlich auf den Rücken. Seine Gliedmaßen fielen leblos zu Boden, die Augen blieben geschlossen.
Auriels Blick fiel auf das Blut an Rhavîns Wange, das von seiner Halsverletzung aus dorthin gesickert war. Wimmernd wischte sie es mit ihrem Ärmel ab. Die Hexerin wusste nicht, was zu tun war, ihre Finger zitterten und ihre Gedanken kreisten sinnlos umher, wussten keine Lösung zu entdecken. Sie tätschelte das Gesicht ihres Begleiters, pustete ihn an, schrie und brüllte, flüsterte direkt in seine Ohren und unternahm allerlei andere Anstrengungen, doch was sie auch tat, Rhavîn blieb ohne Bewusstsein.
Auriel war so aufgeregt und panisch, dass es ihr nicht einmal gelingen wollte, die Atmung und den Herzschlag des Sícyr´Glýnħ festzustellen, sodass ihr verborgen blieb, ob er tot war oder noch lebte. Mit zitternden Fingern versuchte sie, die Blutung an Rhavîns Hals zu stillen, doch auch dies gelang ihr nicht.
„Vermaledeite Hure!“, kreischte sie. Revelyas Anblick verschwand nicht aus Auriels Kopf. Zorn lähmte ihre Sinne, Verzagtheit zermarterte ihren Geist. Die Ohnmacht trieb die junge Hexerin zur Verzweiflung. Schreiend ergriff sie ihren Dolch und rammte ihn abwechselnd in die Wände und die Lehnstühle des Thing-Raums. Auriel trat nach allem, was ihr in den Weg geriet und schrie Kummer und Verzweiflung in die Dunkelheit. Sie rief nach Nymion, bis sie heiser war, doch das Einhorn kehrte nicht zurück und Auriel blieb mit ihren Sorgen allein.
Sie schrie so lange, bis sie kaum noch einen Ton herausbringen konnte. Dann übermannten sie ihre Tränen und Auriel konnte bloß noch weinen. Kraftlos ließ sie ihren Dolch zu Boden fallen und kauerte sich neben Rhavîn auf den Boden. Völlig erschöpft presste sie sich an den regungslosen Leib des Dunkelelfen. Sie spürte seine Wärme, fühlte seine Haut und sein Haar. Der wohlbekannte Duft berührte beruhigend ihre Nase, umfing sie tröstend.
„Rhavîn.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen. Auriel schämte sich der Tränen nicht. Sie flossen über ihre Wangen und tropften auf den Boden, um sich dort mit Rhavîns dunklem Blut zu vermischen. Auriel schwieg. Sie trauerte um den Freund, den sie verloren glaubte. Die Hexerin wusste, dass jemand, der von einem Vampir gebissen worden war, nur zwei Schicksale erwarten konnte. Entweder er starb, oder er wurde selbst zu einem Vampir. Wovon es abhing, welchen Weg das Opfer eines Vampirs einschlagen musste, wusste Auriel nicht.
Da nichts weiter geschah und weder Nymion noch Kentaro zurückkehrten, schlief Auriel irgendwann erschöpft ein. Ihr linker Arm lag auf Rhavîns Brustkorb, ihre Hand hielt eine seiner Haarsträhnen umklammert.
Die
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