Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 2 (German Edition)
einem Morgen länger geschlafen als ich. Immer hat er mich geweckt. Selbst wenn er schlief und keine Wache halten musste, wurde er bei dem kleinsten Geräusch wach, sodass ich kaum gewagt habe, mich zu bewegen. Nun achte ich nicht einmal darauf, leise zu sein, und er schläft dennoch immer weiter. Auriel war gerührt. Sie beobachtete den hübschen Mann eine Weile. Ihre Blicke glitten über seinen Körper, sein blasses Gesicht, sein langes Haar. Schließlich trat sie zu ihm, legte eine Hand auf seine Brust und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Stirn.
„Rhavîn, wach auf.“
Der Dunkelelf schlug die Augen auf. Es erschrak ihn, dass Auriel ihn hatte berühren können, ohne dass er es gemerkt hatte. Gänsehaut rieselte über seinen Rücken.
Ein Feind hätte sich unbemerkt an mich heranschleichen können. Ich hätte ihn erst bemerkt, wenn ich seine Klinge an der Kehle gespürt hätte. Rhavîns Miene verdunkelte sich. Die Erkenntnis, nicht wachsam gewesen zu sein, verstimmte ihn. Womöglich war die Dosis doch etwas zu hoch.
„Danke.“ Rhavîns rechter Arm schmerzte, die Nadel stak noch immer unter seiner Haut. Der Arm hatte sich bläulich verfärbt, die Einstichstelle war entzündet. Der Dunkelelf führte das Handgelenk an den Mund, zog die lange Nadel mit den Zähnen aus seiner Haut.
Auriels Augen weiteten sich. Sie sah zu, wie Rhavîn schließlich aufstand und die Nadel unbeteiligt ausspuckte.
„Geht es dir gut?“, stotterte sie.
Rhavîn nickte. Er zog die Nase kraus. Grob rieb er über seinen verletzten Arm, versuchte unsanft, die Spuren der letzten Nacht zu verwischen.
„Was ist denn geschehen?“
Rhavîn antwortete nicht. Sein Blick war getrübt, seine Sinne gedämpft. Er fühlte sich fiebrig, Kopf- und Gliederschmerzen quälten ihn. Die Trauer um Nymion schlug in seinem Herzen und seinem Kopf wie ein Hammer auf einen Amboss, sodass der Dunkelelf keinen anderen Gedanken fassen konnte.
Ernüchtert schöpfte er etwas Wasser aus einem Schlauch, den er bei sich trug, und wusch sich Gesicht und Hände in der Hoffnung, sein Geist würde dadurch klarer. Doch dem war nicht so. Tränen seines unerträglichen Kummers mischten sich mit dem kalten Nass, schluchzend brach der Meuchelmörder in die Knie.
„Es geht dir nicht gut“, hörte er Auriel wie durch dichten Nebel zu ihm sagen. Betäubt spürte er ihre sanfte Berührung und wollte sie erwidern, doch er griff ins Leere.
So kann ich dem Jarl der Nordmarken unmöglich entgegentreten , erwog der Sícyr´Glýnħ in einem Meer aus Verzweiflung. Ich bin wie betrunken, schlimmer noch. Er fischte ein Messer hervor und stand schwankend auf.
„Was hast du vor?“ Auriel verschwamm vor Rhavîns Augen. Er sah, wie die Hexerin zurückwich.
Rhavîns Finger krampften sich um den Messergriff, seine andere Hand tastete an einem Baum nach Halt, bis er sicher stand.
Der Dunkelelf wusste, wie er seine Lebensgeister wecken konnte. Er holte aus und rammte die Klinge mit voller Wucht in seinen rechten Oberschenkel. Gewebe zerriss, Blut spritzte und Rhavîn fühlte zum ersten Mal seit Stunden etwas anderes als Trauer.
Er brüllte sein Leiden in den Wald. Starker Schmerz ließ ihn erzittern. Dennoch lechzte er nach mehr. Es gelüstete Rhavîn danach, größere körperliche Pein zu erfahren, damit sie sein Seelenleid zu dämpfen vermochte.
Mit verkrampften Fingern trieb er die Klinge noch ein Stück weiter in sein Bein. Dann ließ er von ihr ab und genoss den Schmerz, der sich wellenartig durch seinen Körper ergoss. Blut sickerte aus der Wunde. Seine Wärme gaukelte Rhavîn Behaglichkeit und Geborgenheit vor. Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus, der Schmerz pulsierte wohlig in seinen Muskeln. Endlich spürte er seinen Körper wieder, der Ni´kyrtaz fühlte sich seit Stunden wieder lebendig.
„Bei meinem Fürsten ...“ Rhavîn richtete sich auf. Die Finger in die Rinde des Baumes gepresst fand er genügend Halt, um sich umzusehen. Sein Blick klarte auf, die Nebel zogen sich zurück und gaben seine Gedanken frei.
„Bei den verwobenen Grauen, was hast du getan?“ Auriel sprang an Rhavîns Seite. Sie kniete sich neben ihn, wollte die Klinge aus seinem Fleisch ziehen.
„Warte!“, ließ Rhavîn sie einhalten. „Einen Moment noch.“
Die Hexerin sah zu Rhavîn auf, ihre Augen spiegelten Ungläubigkeit. Der Dunkelelf beachtete sie nicht. Er legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Rhavîn sog den Duft des Waldes ein, als wäre es das erste
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