Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 2 (German Edition)
Mal. Erleichtert spürte er, dass er seine Umwelt wieder wahrnahm. Er fühlte den weichen Waldboden unter den Füßen, die raue Borke an den Fingern und den Wind in seinem Haar. Der Schmerz, der in seinem Bein hämmerte, hatte ihn zurück in die Wirklichkeit geführt.
Dankbar richtete Rhavîn den Blick auf das Kanagi-Ten, ergriff es und riss es rücksichtslos aus seinem Oberschenkel.
„Rhavîn!“ Auriel war fassungslos. „Wieso nur hast du das getan?“
Der Ni´kyrtaz richtete den Blick auf die junge Hexerin.
„Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.“ Beiläufig leckte er das Blut von der silbernen Klinge. „Nun aber bin ich wieder Herr meiner Sinne.“
„Was hast du dir nur angetan?“ Auriel wechselte einen Blick zwischen der fortgeworfenen Nadel und dem Kanagi-Ten in Rhavîns Händen. „Wieso hast du mir denn nichts gesagt? Ich hätte doch versucht, dir zu helfen.“
„Lass uns aufbrechen.“
Auriel war traurig über die Frostigkeit des Dunkelelfen, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
„Lass mich die Wunde wenigstens noch versorgen“, schlug sie vor.
Rhavîn schüttelte den Kopf. „Sie wird mich daran erinnern, dass ich mich zusammenreißen muss. Heute ist der Tag meines Fürsten, meine Trauer muss zurückstehen. Der Schmerz in meinem Bein wird meinen Geist erhellen und meine Gedanken zusammenhalten.“
Ebenso wie Rhavîn nahm Auriel ihre Habseligkeiten auf. Dann folgte sie ihm in Richtung des Holzpfades. Bevor sie den Wald verließen, pflückte die Zauberin einige Beeren und Pilze, die sie auf der weiteren Reise über den Knüppeldamm verspeiste. Rhavîn indes sammelte auf Drängen seiner Gefährtin einige Käfer. Außerdem fing er eine Schlange und grub ein paar Maden aus. Er musste sich zwingen zu essen, denn noch immer grub die Übelkeit ihre Krallen in seinen Magen.
Trotzdem fühlte Rhavîn sich an diesem Tag körperlich gestärkter. Dies verdankte er allerdings weder dem Gift noch der selbst zugefügten Verletzung. Auriels heilende Magie setzte mehr und mehr ihre Wirkung frei. Dennoch sah man dem Dunkelelfen die zahlreichen Verletzungen noch immer an.
Aber auch mental ging es dem Ni´kyrtaz etwas besser. Zwar war die Trauer um Nymion weiterhin das vorherrschende Gefühl in seiner Brust und auch die Nachwirkungen des Giftes waren längst nicht ausgestanden. Doch erfüllte die Stichwunde ihren Sinn – sie erinnerte den Dunkelelfen an seinen Auftrag und bewahrte ihn davor, in Trauer zu versinken oder sich den betäubenden Nebenwirkungen der Drogen hinzugeben.
„Was auch immer geschieht, lass mich sprechen!“, gebot Rhavîn bald. Er blickte Auriel verwegen an.
„Gut.“ Auriel nickte. „Da ich ja auch kaum etwas von deinem Auftrag weiß, wüsste ich ohnehin nicht, was ich sagen sollte.“
Rhavîn überprüfte den Sitz seiner Waffen. Dann lud er seine Teydraga mit vier Bolzen, bevor er sie wieder auf den Rücken nahm.
„Vielleicht solltest du dich nicht zu deutlich in meiner Nähe aufhalten. Die Botschaft meines Fürsten wird ein wenig unangenehm sein, und zwar nicht nur für den Jarl.“
„Ich wüsste wirklich gern, worum es sich dabei handelt“, entgegnete Auriel. Während des Gehens strich sie über die Pflanzen, die am Wegesrand wuchsen. Dieser Tag war ebenfalls sonnig und von einer klaren, lauen Luft erfüllt. Vögel zwitscherten und ein sachter Wind blies durch die Bäume, sodass es Auriel beinah vorkam, als würden sich Rhavîn und sie nur auf einem gewöhnlichen Spaziergang befinden.
„Wo trägst du dieses Schriftstück eigentlich, Rhavîn?“ Die Zauberin blickte den Dunkelelfen neugierig an.
Rhavîn entblößte seine Zähne zu einem zynischen Lächeln. „Nah genug bei mir, um es direkt zu übergeben, sobald Grímmaldur der Schwarze mir vor die Füße tritt.“
„Ich hoffe, dass er auf diese Botschaft vorbereitet ist, denn so, wie du redest, klingt es, als würde es sich dabei um schlechte Nachrichten handeln“, gab die Hexerin zu bedenken. Mittlerweile befanden sich die beiden bereits in der großen Kurve. Schon führte der Weg in geschlängelten Linien entlang der schroffen Felsen in ein weitläufiges Tal hinein.
Dieses Tal wurde von einem Flusslauf gezeichnet. Es war von vielen kleinen Waldgruppen bestanden, sowie von einigen Felsgraten und Sandsteinformationen durchbrochen. In der Mitte des Tals verliefen sowohl der Fluss als auch der Weg durch ein großes Dorf, das aus zahlreichen Langhäusern, einigen Stallungen und einem
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