Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 2 (German Edition)
tiefer die beiden in den Wald hineingingen, desto öfter führte ihr Weg sie vorbei an nicht gemischten Waldteilen. Durch die dichten Kronen der Bäume fiel nur wenig Tageslicht, Unterholz gab es nicht, Laub und Nadeln bedeckten den Boden.
„Hier übernachten wir“, sagte Rhavîn plötzlich knapp. Er blieb auf einer kleinen Lichtung inmitten eines Tannenhains stehen. Die dichten Nadelbäume ließen kaum Licht auf den Waldboden herab, ihre rauen Äste reichten fast bis zum Boden. Überall auf dem Boden lagen Nadeln, zwischen Unterholz und herabgefallenen Ästen ruhten zwei umgestürzte Bäume. Dieser Ort wirkte wie ein Tempel der Natur, wie ein heiliger Hain von Druiden. Auriel fröstelte. Ihre Gefühle schwankten zwischen Geborgenheit und Furcht.
Rhavîn setzte sich mit dem Rücken zu der Lichtung auf einen der Baumstämme. Behutsam zog er das Horn aus seinem Gürtel, drehte es mit wehmütigem Blick zwischen den Fingern. Sein Geist weilte bei Nymion. Die Stille der Lichtung schraubte sich pulsierend in seinen Kopf, ein schriller Schmerz fraß sich durch seine Gedanken.
Auriel hörte den Meuchelmörder seufzen. Sie entschied sich, ihn nicht zu stören, obwohl sie diesen Moment sehr gern an seiner Seite verbracht hätte. Sie wollte ihn halten und gehalten werden, doch sie blieb allein. Einsam und deprimiert versuchte die Zauberin, es sich auf den stacheligen Tannennadeln bequem zu machen.
Hoffentlich sucht mich heute Nacht nicht noch einmal dieser dunkle Traum heim , überlegte Auriel nervös. Ich habe kaum noch Kraft. Es scheint mir, als müsste ich Rhavîns Trauer mittragen. Und diese schrecklichen Nächte bereiten mir tiefe Qualen. Wenn ich nicht einmal am Tage mit Rhavîn sprechen kann, bin ich auch noch dazu verdammt, nachts wie tags über die Träume nachzudenken. Wenn ich bloß wüsste, was sie bedeuten. Auriel hüllte sich in ihren Umhang. Ein sachter Wind blies über ihr Gesicht. Zwischen dem Rascheln kleiner Tiere rief immer wieder ein Uhu in die Stille der Nacht. Werde ich morgen erfahren, was das Schicksal für mich bereithält? Ich hoffe bloß, dass sich all meine Befürchtungen als Hirngespinste entpuppen und in Wahrheit nichts geschieht. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Rhavîn seinen Auftrag erfolgreich vollenden kann und weder N’thaldur noch sonst jemand nach unseren Leben trachtet. Auriel seufzte hörbar. Rastlos drehte sie sich hin und her, versuchte, die düsteren Bilder aus ihrem Kopf zu scheuchen. Die Hexerin konnte noch lange Zeit nicht einschlafen.
Rhavîn erging es ähnlich. Tief in Gedanken versunken saß er auf dem Baumstamm, Nymions Geschenk krampfhaft in den Händen haltend. Von Zeit zu Zeit flammten kurze, magische Impulse aus dem wertvollen Horn. Ihr Leuchten wurde von den umstehenden Bäumen zurückgeworfen. Der Sícyr´Glýnħ hatte bereits die vergangene Nacht komplett durchwacht, nun schien es ihm, als könne er auch in dieser Nacht keinen Schlaf finden.
Ruhelos stand er immer wieder auf, um allein durch den Wald zu streifen oder gedankenverloren in den Himmel zu starren. Seine Gedanken kreisten pausenlos um seine gemeinsame Vergangenheit mit Nymion. Es hatte kaum einen Tag in seinem Leben gegeben, den er nicht mit dem schwarzen Einhorn zusammen gewesen war. Sie hatten viele Gefahren überstanden, viel Leid erlebt, viele Grausamkeiten und Schmerzen ertragen. Nymion hatte immer zu Rhavîn gehalten, ihm stets beigestanden, ihn verteidigt, für ihn gekämpft. Obwohl sie äußerlich so unterschiedlich waren, waren Rhavîn und Nymion innerlich wie Brüder gewesen. Die Vorstellung, sein Leben von nun an ohne Nymion verbringen zu müssen, versetzte Rhavîns Herz unaufhörliche Stiche. Wie ein Dolch stieß die bittere Erkenntnis in seine Eingeweide, durchbohrte seine Seele.
Ganz gleich, wie sehr ich Nymion auch vermisse. Ich muss morgen meinen Auftrag erledigen und den Befehl meines Fürsten erfüllen.
Erschöpft ließ sich Rhavîn auf einen der umgestürzten Baumstämme fallen. Gedankenverloren krempelte er die Ärmel seiner Kleider nach oben. Dann nestelte er an einer Tasche an seinem Gürtel, zog schließlich eine Handvoll sehr lange Silbernadeln daraus hervor.
Ich muss versuchen, diese Nacht zu schlafen, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Ich muss bei Kräften bleiben und meine Gedanken wieder neu ordnen. Mein Auftrag kann nur gelingen, wenn ich konzentriert bin. Morgen ist der wichtigste Tag meiner Reise, der Abschluss meiner Mission steht kurz bevor.
Klirrend
Weitere Kostenlose Bücher