Rheingold
sehr große Holztruhen unter einer dicken Staubschicht. Der Deckel der einen Truhe war im Laufe der Zeit morsch geworden und schien zu zerfallen. Langsam ging er darauf zu.
»Die nicht«, sagte Herwodis und deutete auf die größere der beiden Truhen, die an der Rückwand stand. »Du mußt sie beiseite rücken, bevor ich das zerbrochene Schwert hervorholen kann.«
Sigfrid kauerte sich vor die Truhe, legte die Arme um die riesige Holzkiste und blies den Staub weg, der in einer dicken Wolke in die Luft stieg. Die Truhe war schwerer, als er vermutet hatte, aber er stemmte sie mit all seiner Kraft an der Schmalseite nach oben und schleppte sie durch den Raum. »Wohin soll sie?« fragte er keuchend, als er vor seiner Mutter stand.
»Irgendwohin«, erwiderte Herwodis, die seinem Blick auswich. Als Sigfrid die Truhe wieder vorsichtig abstellte, ging sie zur Rückwand und kniete vor einer flachen Mulde, die die Truhe in den Lehmboden gedrückt hatte. Zu Sigfrids Erstaunenen begann sie mit bloßen Händen, in der harten Erde zu graben. »Laß mich das machen!« rief er, »du solltest nicht...« Herwodis schüttelte stumm den Kopf, ohne ihn anzusehen. Erst nach einer Weile hielt sie inne und sagte: »Ich habe die zwei Stücke von Sigmunds Schwert hier vergraben und dann von Chilpirichs Knechten die Truhe darauf stellen lassen. Niemand sollte sie leicht wegschieben können und dabei vielleicht zufällig auf das Schwert stoßen. Ganz sicher konnte ich natürlich nicht sein, daß niemand hier hereinkommen würde, aber es war doch sehr unwahrscheinlich.« Sie seufzte und sagte dann wehmütig lächelnd: »Seit deiner Geburt liegt hier Sigmunds Erbe.«
Sie grub immer tiefer, bis ihre Ellbogen in der Erde verschwanden und ein länglicher Graben entstanden war. Das Licht des späten Nachmittags schwand; die graue Dämmerung brach herein, und bald war es draußen vor dem Haus so dunkel wie innen. Schließlich richtete sich Herwodis stöhnend auf und wischte sich Erde von den Händen.
»Hast du es gefunden?« fragte Sigfrid aufgeregt, beugte sich über ihre Schulter und versuchte, in dem schwarzen Loch etwas zu erkennen.
Herwodis zeigte ihm eine lange schmale Holzkiste. Die Lederverschnürung war mürbe geworden und fiel bei der Berührung herunter. Herwodis erhob sich langsam und lehnte sich haltsuchend an die Wand. Dann trat sie auf ihn zu und reichte ihm den Eisenschlüssel, mit dem sie das Vorratshaus geöffnet hatte. »All das gehört jetzt dir. Du kannst damit tun, was du willst«, sagte sie leise zu ihrem Sohn, und in ihrer Stimme lag ein Anflug von Müdigkeit. »Ich kann es dir nicht länger vorenthalten, und es sollte auch nicht länger in der Dunkelheit bleiben. Dieser Schatz gehört dir, Sigfrid. Du weißt, wie dein Vater umgekommen ist. Lingwe hat seinen Tod heimtückisch geplant. Er hatte eine große Streitmacht um sich versammelt und griff deinen Vater an, als er auf dem Rückweg zu seinem Volk war. Hunding und alle seine Söhne waren immer die Feinde der Wälsungen. Viele Lieder aus dem Norden berichten darüber.«
Kaum hörbar fügte Herwodis hinzu: »Sie würden auch in unserer Halle öfter gesungen, wenn Alprecht die Gewißheit hätte, daß ich nicht mehr um Sigmund trauerte.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und erzählte weiter: »Dein Vater wollte mit diesem Schatz sein Volk in das Land meines Vaters holen, denn die Nordsee überflutete die Siedlungen der Sachsen, und sie suchten eine neue Heimat. Das ist noch immer so, und sein Volk ist auch dein Volk, obwohl der Feind deines Vaters dort herrscht.« Ihre Stimme klang plötzlich klar und laut. Herwodis sagte mit einer Kraft, wie sie Sigfrid bei ihr noch nicht erlebt hatte: »Sigfrid, du mußt in den Norden fahren. Du mußt deinen Vater Sigmund rächen! Du wirst das Werk vollenden, das unvollendet bleiben mußte. Alprecht ist gut zu uns gewesen. Ich war im Grunde seine Gefangene, und du bist in Knechtschaft geboren. Erst wenn du mit dem Schwert deines Vaters Lingwes Blut vergießt, kannst du wirklich frei sein. Nur wenn das geschieht, wird deine Seele, Sigmunds Seele, die Seele der Wälsungen, die in dir lebt, zu ihrer ganzen Macht und Kraft finden. Denk daran und vergiß das nie!«
Sie legte ihm den großen Eisenschlüssel in die Hand. »Mit dem Reichtum deines Vaters kannst du soviel Schiffe für deine Fahrt in den Norden bauen und ausstatten, wie du brauchst. Du bist bald ein erwachsener Mann und wirst eine Streitmacht führen. Ich weiß
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