Rheingrund
Sobald ich ins Leben zurückgekehrt bin, werde ich mich zu allem bekennen, beschließt er. Ich will alles preisgeben. Ohne Rücksicht und mit allen Konsequenzen.
Ein Rascheln schreckt ihn auf, kaum hörbar, unmittelbar neben seinem Nacken. Er nimmt alle Kraft zusammen. Als es ihm gelingt, den Kopf zu wenden, blickt er in ein tiefschwarzes Auge. Der Kopf ist schlank, von graubrauner Farbe und glänzend die obere Hälfte, von einem matten Gelb die untere. Die Schlange nähert sich ohne Furcht, wie angelockt vom schwindenden Rest seiner Körperwärme. Vor seiner Schulter richtet sie sich auf und gleitet still über ihn hinweg, als habe die Natur ihn in ihre Welt aufgenommen.
18
Ruth verlor kein Wort, bis das Weingut in Sicht kam. Erst dann, als hätte sie absichtlich bis zur Ankunft gewartet, sagte sie: »Ich sollte Bernhards Rat annehmen und mich in Geduld üben. Wenn meine Tochter lebt, wird sie sich eines Tages melden. Wir werden die Nachforschungen stoppen.«
Sie legte die Hände auf das Armaturenbrett, als suchte sie einen Halt.
Die Fassade trug einen Hauch von Grün. Die Weinreben trieben die ersten vorwitzigen Blattspitzen aus.
Norma wartete, bis der Polo zum Stehen gekommen war. »Ich soll die Ermittlungen einstellen?«
Ruth nickte angestrengt. »Bernhard hat recht. Diese Suche führt zu nichts und belastet mich und Inga nur unnötig.«
Hatte sie sich auch früher von Bernhard überreden lassen und jeden Detektiv auf halber Strecke zurückgepfiffen? Bisher konnte Norma nur Vermutungen vorweisen, die allerdings Zündstoff in sich trugen. Aber noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, Ruth davon zu erzählen. Sie brauchte Beweise und musste Bernhards Alibi widerlegen, das ihm ausgerechnet von Ruth gegeben wurde.
»Ich habe durchaus neue Erkenntnisse. Bitte lassen Sie mir Zeit.«
Ruth stieß die Autotür auf, blieb aber sitzen. Das Zwitschern der Spatzen, die zwischen den Weinreben nach Insekten pickten, wehte herein. Der Hund, der sich im Fußraum ausgeruht hatte, hob die Nase in den Wind und sprang auf die Straße.
Behutsam sagte Norma: »Sie müssen damit rechnen, dass die Ergebnisse schmerzen können. Dem steht die Ungewissheit gegenüber, die weiterhin Raum für Hoffnungen lässt.«
Ruths Blick folgte Arlo, der zur Haustür getrottet war und Wasser aus einem Trog schleckte. »Sie meinen also, ich will Ihnen den Auftrag aus Feigheit entziehen? Weil ich im Grunde gar nicht wissen will, was mit Marika geschehen ist? Um mich nicht der Tatsache stellen zu müssen, dass sich meine Tochter tatsächlich im Rhein ertränkt hat?«
»Es ist Ihre Entscheidung. Aber vergessen Sie dabei nicht Ihre Enkelin. Inga sucht ihren Platz im Leben. Dafür braucht sie Klarheit über die Eltern.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, bis Ruth sich räusperte.
»Nun gut, ich werde mich der Wahrheit stellen. Wie auch immer sie aussehen wird. Also suchen Sie weiter.«
Sie fragte nach den Entdeckungen. Es sei noch zu früh, entgegnete Norma und bat um Vertrauen.
»Wollen Sie uns schonen? Inga und mich?«
»Ja«, antwortete Norma aufrichtig. »Allerdings nicht nur Sie beide. Ich möchte niemanden in einen falschen Verdacht bringen.«
Ruth setzte zu einer Frage an, hielt dann inne und neigte zustimmend den Kopf.
Hinter dem Weingut hatte die Natur vom Garten Besitz ergriffen. Brombeerranken umschlangen die Rabatten. Wo einmal Rasen gewesen war, brach frisches Grün durch wintergelbe Halme, und dazwischen erhoben sich hüfthohe Stängel mit unscheinbaren Blütendolden, wie Norma sie nie zuvor gesehen hatte. Mitten hindurch führte ein Trampelpfad bergauf zum Gartenhaus. Arlo hatte Norma eingeholt und trottete mit hängender Zunge hinterher. Auf den Stufen vor der Hütte drängte er sich vorbei. Es dauerte eine Weile, bis Inga auf Normas Klopfen hin öffnete. Ihr Elfengesicht war vom Weinen geschwollen. Sie setzte sich auf einen Stuhl und stemmte die Füße gegen das Weinfass. An den Wanderstiefeln klebte Lehm.
»Ich bin am Vormittag durch den Wald gelaufen. Das hilft mir.«
Norma zog sich den zweiten Stuhl heran. »Hast du Ruth nicht getroffen? Sie war auf dem Rheinsteig nach Frauenstein unterwegs.«
Sie sei dieselbe Strecke gegangen, erwiderte Inga, allerdings ohne der Großmutter zu begegnen, und fügte hinzu, dass sie die Lust an der Bewegung wohl von Ruth geerbt habe. »Und von ihm!«
»Von Martin?«
Inga zuckte zusammen. »Du weißt es? Hat er es dir erzählt?«
Norma lächelte beschwichtigend. »Nein,
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