Rheingrund
mit angesehen.«
Sandra überließ das Wort Norma, die den Vorfall im Foyer zusammenfasste und die anderen über die Namensänderung informierte. Die Gründe für Lamberts Zorn behielt sie zunächst für sich. Wolfert schrieb mit. Seine Gründlichkeit galt als ideale Ergänzung zu Milanos Fähigkeit, um die Ecke zu denken. ›Protokoll und Genie‹ wurde das Gespann unter Kollegen, nicht frei von einer gewissen Ehrerbietung, genannt. Beide schienen ihr Vergnügen daran zu haben und spielten diese Rollen mit Überzeugung. Norma wusste, dass die Männer sich ähnlicher waren, als sie sich gaben. Wolfert ließ gern Milano reden, um nicht durch schlaue Bemerkungen aufzufallen, und Milano schob die Ruppigkeit vor, um seine Sensibilität zu verbergen. Er blieb auch jetzt der Wortführer, während mögliche Erklärungen für Martins Ausbleiben erwogen wurden. Norma hielt sich zurück und hörte zu. Ein Fahrradunfall schien die wahrscheinlichste Erklärung, obwohl die Anfragen bei den Krankenhäusern, die unmittelbar nach der Vermisstenanzeige herausgingen, bisher zu keinem Ergebnis geführt hatten.
Sandra richtete sich auf.
»Frau Reber?« Das war Wolfert mit seiner unermüdlichen Aufmerksamkeit.
Sie legte die Hände auf die Knie. »Mir ist etwas eingefallen. Vor vielen Jahren hatte Martin einen Unfall mit dem Rad. Er behauptete allerdings, dass es kein Unfall war.«
Milano kippte den massigen Rumpf nach vorn. »Geht es ein wenig deutlicher?«
Sie ignorierte ihn und suchte den Blick zu Wolfert. Ausführlich erzählte sie von der Jugendclique in Dresden, der Martin, Kai, Bernhard Inken und sie selbst als Martins Freundin angehörten. Eines Tages verunglückte Martin, als die Lenkstange seines Fahrrades während der Fahrt brach. Ein aufgeschlagenes Gesicht und ein gebrochenes Schlüsselbein waren die Folge. »So toll waren unsere DDR-Räder nicht. Materialfehler kamen häufiger vor. Für Martin war das Schlimmste, dass er auf einen Ferienkurs verzichten musste. Er war in eine Projektwoche der Filmhochschule eingeladen. Den Platz bekam ein anderer aus der Gruppe.«
Norma stellte die naheliegende Frage: »Der andere Junge hieß Kai Kristian?«
»Der Kurs war der Preis für besondere Leistungen in der Schule, und Kai stand an zweiter Stelle. Martin war sicher, dass sich Kai an seinem Fahrrad zu schaffen gemacht hatte. Aber niemand traute Kai diesen Anschlag zu, und Martin bekam richtig Ärger wegen seiner Anschuldigungen. Ich hatte den Vorfall längst vergessen. Aber nun, nach dem Angriff gestern, und weil Martin doch wieder mit dem Rad unterwegs ist …«
»Bitte beruhigen Sie sich.« Milano zeigte sich demonstrativ fürsorglich. »Es ist gut, dass Sie uns davon erzählt haben. Aber es muss gar nichts bedeuten.«
Norma fragte: »Kennen Sie die Strecken, auf denen Ihr Mann unterwegs ist?«
»Ich weiß, dass er in der letzten Zeit oft in den Rheingau gefahren ist«, erklärte Sandra mit besorgter Miene. »Aber wo genau? Keine Ahnung. Für seinen Sport interessiere ich mich nicht.« Sie schaute auf die Armbanduhr. »Wir wollten heute Abend zu einer Vernissage ins Kurhaus. Wann kommt er bloß?«
Milano erhob sich. »Wir werden eine umfassende Suche einleiten.«
Er bat um den Autoschlüssel. Vielleicht ließen sich im Wagen Hinweise auf die Route finden. Wolfert schlug sein Notizbuch zu und versuchte, Sandra mit den üblichen Phrasen zu trösten. Sie solle sich keine Sorgen machen, die meisten Vermissten tauchten unversehrt wieder auf und so weiter. Norma kannte die Sprüche. Auch sie verabschiedete sich und folgte den Männern auf die Straße hinaus.
Unten fragte Wolfert: »Was hältst du von der Sache, Norma?«
Norma strich eine Strähne hinter das Ohr. Ein leichter Wind zog die Straße herauf, ein Vorbote für das Ende der Sonnentage? »Ich denke, der Fall Marika hat eine neue Chance verdient.«
»Vermutest du einen Zusammenhang?«
»Bisher ist mir vor allem eines klar: Die Geschichte ist verzwickt. Aber ihr wisst, dass ich meinen Klienten gegenüber zum Schweigen verpflichtet bin.«
»Und du solltest bedenken, dass du uns vertrauen kannst«, wandte Wolfert ein. »Eine Hand wäscht die andere. Nicht wahr, Luigi?«
Milano bewegte den fleischigen Hals zu einem angedeuteten Nicken.
»Nun gut«, sagte Norma. »Martin Reber ist vermutlich der Vater von Inga Inken.«
»Bernhard Inkens Tochter?« Wolfert verbesserte sich sofort: »Also seine angebliche Tochter. Kannst du das beweisen?«
»Nicht ich. Aber ihr!« Sie
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