Rheingrund
seiner Zutraulichkeit. Gegen die Einsamkeit. Wie Poldi wohl damit umgehen würde? Ein Rivale dürfte dem Kater kaum gefallen.
Dass es sich tatsächlich um Arlo handelte, bewies Ruth, die mit leichtem Schritt und forschem Blick auf Norma zuhielt. Ein blaues Stirnband schmückte den grauen Haarschopf.
Norma tätschelte Arlos kräftigen Rücken. »Sie sind vom Weingut bis hierher gelaufen?«
Ruth lächelte. »Was spricht dagegen? Ich gehe die Strecke oft. Sie wissen doch, Norma: Wer rastet, der rostet.« Ernsthaft fügte sie hinzu: »Heute kann ich den Spaziergang nicht richtig genießen. Ich mache mir Sorgen.«
»Um Inga?«
Ruth lüftete das Stirnband und ordnete die Frisur. »Gestern Morgen ist sie aus dem Büro fortgelaufen und hat sich den ganzen Tag im Gartenhaus verkrochen. Auch heute habe ich sie nicht zu Gesicht bekommen. Auf Martin würde sie hören. Aber ich erreiche ihn nicht.«
Ruth ermahnte den Hund, der seine Schnauze in ein Mauseloch bohrte und zum Graben ansetzte. »Martin war gestern Morgen kurz in der Agentur und ist von dort aus zu einer Radtour aufgebrochen, sagt die Sekretärin. Ich habe sie am Abend zu Hause angerufen, was sie empörte.«
»Weiß Martins Frau nicht, wo er ist?«
»Sandra hat noch geschlafen, als er gestern Morgen aus dem Haus ging, und ihn seitdem nicht gesehen, behauptet sie. Sandra ist eine Transuse.«
Norma beugte sich zur Seite, um ihr Lächeln zu verbergen, und beobachtete den Hund, der von der Mäusejagd abgelassen und sich dem Abhang zugewandt hatte. Mit leisem Fiepen neigte er den Kopf zur Seite und äugte zu den Frauen herüber, um dann in kurzen hellen Tönen zu bellen, als wollte er sie zu einem Spiel auffordern. Ruth rief ihn zur Ordnung. Norma beschloss, sich das mit dem Hund genau zu überlegen. So einem Tier fiel ständig etwas Neues ein.
»Ich muss zurück und nach Inga sehen«, sagte Ruth.
»Soll ich mit ihr reden?«
Ruth zog die grauen Augenbrauen zusammen. »Ob sie sich darauf einlässt?«
»Ein Versuch kann nicht schaden. Nehmen wir meinen Wagen?«
Ruth stimmte zu. Einmal entschlossen, eilte sie voraus.
Arlo stand winselnd vor dem Abgrund. Er richtete den Blick seiner Bernsteinaugen auf Norma, bevor er sich zögerlich abwandte und den Frauen folgte.
17
Die Kälte ist grausam. Unerbittlich gefriert der Eisblock, auf dem er liegt, und die Sonne, die ihm ins Gesicht scheint, kann ihn nicht wärmen. Sein Blick geht hinauf in den blauen Himmel und streift die Ranken, deren zarte Blätter in Schwingungen geraten, wenn die Amsel sich niederlässt. Bisweilen senkt sie den Schnabel, richtet die runden Augen auf ihn, und für einen Moment begegnen sich ihre Blicke. Seltsam, dass er die Kälte überhaupt auf der Haut spürt, obwohl ihm sonst alle Empfindungen für die Arme und Beine, für den Bauch und den Rücken verloren gegangen sind. Er überlegt, ob das nicht sogar gut ist. Besser als die Schmerzen allemal. Die Ärzte werden das wieder hinbekommen. Daran glaubt er mit aller Entschlossenheit.
Was sich nicht wegdenken lässt, ist der Durst. Die Kehle ist ausgedörrt, und die Trockenheit wandert in den Kopf hinein und saugt sein Gehirn leer. Die Zunge füllt den Mund aus, ist dick und pelzig. Er will trinken und trinken und trinken, wenn sie ihn finden, und kann kaum an etwas anderes denken. Die einzigen Laute, die er herausbringt, sind Stöhnen und Flüstern. Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, bis man ihn entdeckt. Er ist nicht in der Sahara verschollen. Er liegt wenige Meter unterhalb des Rheinsteigs und hört dort oben die Stimmen der Wanderer und das Klappern der Stöcke. Aus dem Tal schallen die Geräusche des Alltags herauf. Hundegebell. Das Röhren einer Motorsäge. Ein Hahn, der zu verspäteter Stunde kräht.
Der Tag hat längst begonnen.
Es heißt, ein Sterbender durchlebt das Dasein noch einmal in Bruchteilen von Sekunden. Aber der Tod soll ihn nicht bekommen. Er wird überleben. Obwohl sich die Szenen seines Lebens wie Filmsequenzen in die Gedanken schieben. Um den Durst zu verdrängen, geht er ihnen nach. Schöne Bilder wechseln sich mit schlimmen Erinnerungen ab. Marika im Sommerkleid. Ihr frohes Gesicht. Der verführerische Blick. Das Blut auf dem gelben Stoff. Auch damals war er hilflos.
Er denkt an Inga, seine Tochter, und schämt sich vor ihr. Aus Feigheit hat er sie verraten und zeigte ebenso wenig Rückgrat, als ihm die Stasi auf die Schliche kam. Informationen statt Knast, hieß die Chance, für die er Kai ans Messer lieferte.
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