Rhönblut: Kriminalroman (German Edition)
Der Name fiel ihm nicht mehr ein, aber er erinnerte sich, dass dieser Kollege meinte, er habe noch nie so einen Gestank erlebt. Dann führte er Seeberg hinauf in den zweiten Stock und in das letzte Zimmer auf dem Gang, in dem die stickige Luft fast zum Schneiden war. Als er den Raum betrat, flog ein Schwarm Fliegen von demLeichnam auf. Es stank entsetzlich nach verwestem Fleisch, und er musste sich wie schon viele Male zuvor ein Taschentuch schützend vor den Mund halten. Ein Rechtsmediziner erklärte ihm, dass Pogatetz trotz der Betäubungsspritze sein Martyrium bei vollem Bewusstsein erlitten habe. Die starr aufgerissenen Augen des Toten zeugten von Entsetzen und Schrecken. Der Rechtsmediziner erklärte weiter, dass einige Blutgefäße in den Augen geplatzt waren, was zunächst auf Erdrosseln hindeutete, wohl aber auf eine anale Penetration und mangelnde Luftzufuhr zurückzuführen war. Wahrscheinlich hatte der Täter sein Opfer so geknebelt, dass es kaum Luft bekommen hatte. Gerade so viel, dass es noch bei Bewusstsein blieb. Seeberg erinnerte sich auch noch ganz genau an die letzten Worte des Mediziners: Der letzte Stich ins Herz muss für den armen Teufel wie eine Erlösung gewesen sein. Der Kerl hat jedenfalls zuvor gelitten wie ein Hund.
Wie Laura.
Der Gedanke kam ohne Vorwarnung. Plötzlich war Seeberg in seiner Vorstellung wieder im Leichenschauhaus. Erst dort hatte er seine Tochter sehen können. Man hatte ihm zuvor verboten, an Lauras Fundort aufzutauchen, und ihm den genauen Ort verschwiegen. Kohler hatte ihn telefonisch verständigt und in einem Vieraugengespräch versucht, den Tathergang zu erläutern. Dass Laura eigentlich nichtin das Muster des Serientäters gepasst habe und wohl durch reinen Zufall in seine Fänge geraten sei; er habe ihr auf dem Nachhauseweg aufgelauert, als sie durch die Unterführung den Weg zur Bushaltestelle abkürzen wollte. Drei Tage nach ihrem Verschwinden war ihre Leiche in einem Waldstück gefunden worden. Unbekleidet. Nur ihren grünen Lieblingsschal fand man einige Meter weiter, mit dem sie erdrosselt worden war. Der Täter hatte sie einfach abgelegt. Wie einen abgetragenen alten Schuh. Dabei war sie doch erst dreizehn Jahre alt gewesen.
Der Kommissar griff in seine Jackeninnentasche und ertastete den weichen Schal, den er seither immer bei sich trug. Ihn zu fühlen beruhigte ihn sofort; er musste unwillkürlich lächeln, als er daran dachte, wie sie einige Tage vor ihrem Verschwinden mit ihrem ersten Knutschfleck am Hals von der Schule nach Hause gekommen war. Laura hatte noch versucht, ihn vor seinen Augen zu verstecken, doch der grüne Kaschmirschal mitten im Hochsommer war zu auffällig gewesen. Er hatte mit ihr geschimpft und sie gewarnt, sie solle sich vor den Jungs in ihrer Klasse in Acht nehmen. Heute hasste er sich dafür, sie zurechtgewiesen zu haben, und wünschte sich, dass sie jeden Tag mit einem neuen Knutschfleck von der Schule nach Hause kommen würde.
7.
»Nehmen Sie Platz.«
Bornemann deutete hinter einem Berg voller Akten auf einen freien Stuhl. Ins Büro des Vizepräsidenten war Kohler schon unzählige Male zuvor zitiert worden. Meist um fehlgeschlagene Einsätze und Operationen zu erklären und gegebenenfalls zu entschuldigen. Das Verhältnis zwischen den beiden Männern war weder herzlich noch unterkühlt, sondern vielmehr professionell. Sie respektierten sich. Anders als Seeberg war Kohler ein kühlerer und vorausschauender Taktiker, der in den richtigen Momenten clever agierte und so Wogen zu glätten vermochte. Das war wohl auch einer der Gründe gewesen, warum Kohler und nicht Seeberg der Posten des Leiters des Morddezernats angeboten worden war. Beide galten als hervorragende Beamte, doch Kohler war toleranter und wusste sich zurückzunehmen, wohingegen Seeberg immer wieder mit Vorgesetzten aneinandergeriet. Die Beförderung hatte dem freundschaftlichen Verhältnis der beiden jedoch keinen Abbruch getan. Zudem war Kohler zehn Jahre älter als Seeberg und hatte so eine Art Altersvorrecht. Fast zeitgleich zur Beförderung war Laura zur Welt gekommen, und Seeberg meinte, dadurch mehr als entschädigt worden zu sein. Dass er mit einundvierzig Jahren noch Vater geworden war,hätte er, der einsame Wolf, sich nicht mehr träumen lassen. Wohingegen das Ende der Ehe mit Helena nicht allzu überraschend gewesen war. Sie waren sich beinahe in allem unähnlich gewesen, was man sich nur vorstellen konnte. Schon als sie sich kennenlernten, sprach mehr
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