Rhönblut: Kriminalroman (German Edition)
aller Wahrscheinlichkeit nach war Hesse auch nicht für den Tod an Karstensen verantwortlich. Seeberg schob den Stuhl zurück und stand auf.
»Kann ich dann gehen? Oder muss ich zu diesem einsamen Jack in die Zelle?«
»Nein, Sie können noch nicht gehen. Sie sind immer noch tatverdächtig«, erklärte Seeberg.
Kohler klopfte dem jungen Mann auf die Schulter, als er aufstand.
»Aber wir legen dich erstmal nicht zu Jack.«
Die beiden Beamten verließen das Verhörzimmer und machten sich wieder auf den Weg zu den Aufzügen. Als sich die Schiebetüren vor ihnen schlossen, musste Kohler plötzlich anfangen zu lachen.
»Was ist los, Reinhard, bist du jetzt übergeschnappt?«
»Nein, aber das hat Spaß gemacht eben. Der alte Jack? Wie bist du denn darauf gekommen?«
Auch Seeberg musste lachen. Es war das erste Mal seit Wochen.
»Na ja, ich dachte, Jack hört sich eben nach einem Riesenkerl an.«
»Oh, Mann, das war spitze. Das habe ich schon Jahre nicht mehr gemacht, ich wusste gar nicht mehr, wie viel Spaß richtige Ermittlerarbeit machen kann.«
»Du bist halt ein Sesselfurzer geworden. Gewöhn dich dran. In ein paar Wochen hast du den ganzen Scheiß hinter dir.«
5.
Die Buchsbaumhecke, die das Grundstück zur Straße hin abgrenzte, war exakt gestutzt und ließ keine Blicke auf den kleinen Innenhof zu, der zum Eingang führte. Der kleine Weg zur Haustür war geschottert. Unter den Schuhen der beiden Beamten knirschte der Kies, als sie die wenigen Schritte zum Türportal hinauf nahmen. Das Haus selbst war eine Villa, wie sie typisch für den noblen Fuldaer Frauenberg war. Feudal, in Weiß getüncht und mit liebevoll restaurierten Ornamenten und Holzfensterläden bestückt. Als Ammer und Freitag klingelten, summte eine Kameraüber ihrem Kopf, und die Stimme einer Frau erklang aus der Gegensprechanlage.
»Ja?«
»Frau Karstensen?« Die beiden Beamten sahen in das Auge der Kamera über ihren Köpfen und hielten ihre Dienstausweise hoch. »Mein Name ist Julia Freitag, und das ist mein Kollege Christoph Ammer. Wir untersuchen den Tod Ihres Mannes und würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.«
Ohne eine weitere Antwort zu erhalten, summte der Türöffner, und die beiden Beamten traten ein. War die Außenfassade des Hauses schon von edlem Schick geprägt, so vertiefte das Ambiente des Inneren diesen Eindruck noch weiter. Mächtige Gemälde Alter Meister säumten die Wände und verliehen der kleinen Empfangshalle einen elitären Charme. Eine blond gelockte Frau stand direkt vor einem dieser Bilder. Sie trug dunkle, aber stilsichere, moderne Kleidung und hielt ein Glas Wein in der Hand, was zu dieser Tageszeit ungewöhnlich erschien. Doch noch ungewöhnlicher war die Tatsache, dass die äußerst attraktive Frau Karstensen sicher weniger als halb so alt wie ihr verstorbener Ehemann war. Anfang dreißig, keinesfalls älter. Dennoch wirkte sie müde und ausgelaugt.
»Sind Sie Michelle Karstensen, die Ehefrau des Verstorbenen?«
»Ja, die bin ich. Bitte treten Sie ein, ich hatte Sie eigentlich schon früher erwartet.«
Die junge Dame deutete in eines der Zimmer, die von der Empfangshalle abgingen. Ammer und Freitag folgten ihr in den Raum, der mit dunklem Holzmobiliar zu einer Bibliothek umgebaut worden war.
»Möchten Sie auch einen Drink?«
»Nein, danke«, antworteten die beiden Beamten und nahmen auf einer altenglischen Ledercouch Platz. Alles wirkte sehr klassisch und einen Hauch zu altbacken für die junge Witwe.
»Natürlich, wie dumm von mir. Sie sind ja im Dienst. Sie müssen entschuldigen, aber ich weiß nicht, wie ich sonst den heutigen Tag überstehen soll.«
Ammer faltete seine Hände. Die Geste sollte verständnisvoll wirken. Die beiden Beamten hatten sich abgesprochen, dass er zunächst die Gesprächsführung übernehmen sollte.
»Das verstehen wir. So ein Ereignis wirft jeden aus der Bahn. Der Verlust muss schlimm für Sie sein. Unser herzliches Beileid.«
Frau Karstensen schwenkte den Wein in ihrem Glas und ließ mit ihren Augen nicht von dessen tiefroter Farbe ab.
»Um ehrlich zu sein … nein.«
»Nein? Was meinen Sie damit?«
»Es wirft mich nicht aus der Bahn, und ich bin auch nicht traurig. Es geht mir nicht um Ferdi. Die Liebe zwischen uns ist schon seit Langem erloschen … falls sie überhaupt jemals existiert hat.«
»Was meinen Sie dann damit, dass Sie den Tag nur schwer überstehen werden?«
»Sehen Sie sich doch mal hier um.« Frau Karstensen deutete auf eine Wand voller
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