Rhosmari - Retterin der Feen
Worte klangen gestelzt und ihre Bewegungen sahen künstlich aus. Aber je mehr Rhosmari sich auf sie konzentrierte, desto natürlicher spielten sie, und als sie dann noch anfingen zu singen und zu tanzen, wurde Rhosmari ganz warm ums Herz vor Stolz. Nach dem, was ihre Mutter ihr über die Menschen erzählt hatte, hatte sie geradezu Angst gehabt, in deren Nähe zu kommen. Aber der Tod ihres Großvaters war bestimmt ein Unfall gewesen oder doch wenigstens eine Ausnahme. Wenn man sah, was für wunderbare Dinge sich die Menschen ausdachten, und ihnen beim Geschichtenerzählen und Singen zuhörte, konnte man Lady Celyns Misstrauen nicht mehr verstehen – vom Hass der Kaiserin ganz zu schweigen.
Das Stück selber stellte Rhosmari allerdings vor ein Rätsel. Warum wollten die beiden älteren Männer die junge Heldin zu einem anderen Menschen machen? Und warum wollte die junge Heldin sich so unbedingt wie eine hochmütige Dame benehmen, statt das warmherzige, einfache Wesen zu bleiben, das sie war? Rhosmari dachte immer noch über diese Frage nach, als der Vorhang sich zur Pause schloss. Die Zuschauer verließen den Saal und warteten draußen auf den Beginn der zweiten Hälfte.
»Wie findest du das Stück?«, fragte Martin.
»Die Musik ist wunderschön«, sagte Rhosmari, »und ich mag das Mädchen Eliza. Ich verstehe nur nicht, warum die Männer wollen, dass sie anders spricht, nur damit sie vor anderen Leuten so tun kann, als sei sie reich statt arm. Das ist doch nicht ehrlich. Und wie soll ihr das helfen?«
»Du verstehst die Menschen nicht«, sagte Martin. »Es geht nicht nur um eine List oder um die Wette, die beide gewinnen wollen. Indem sie ein Blumenmädchen als Prinzessin ausgeben, stellen sie die Grundannahmen infrage, aufgrund derer Menschen einander beurteilen und verachten.«
»Das leuchtet mir nicht ein«, erwiderte Rhosmari. »Warum sollte jemand Eliza verachten? Sie hat doch nichts Schlechtes getan.«
Martin zuckte die Schultern. »Die Urteile von Menschen beruhen oft auf lächerlichen Dingen. Auf der Art, wie andere sprechen, auf den Kleidern, die sie tragen, auf ihrer Hautfarbe … aber das hast du bestimmt schon selber erlebt. So wie du aussiehst, wirst du hier auf Schritt und Tritt Menschen begegnen, die dich deswegen geringschätzen.«
So wie du aussiehst? Meinte er damit den Mantel, den sie in Cardiff zurückgelassen hatte? Nein, er hatte noch weitere Gründe genannt …
Rhosmaris Blick fiel auf einen der Spiegel an der Wand. Darin sah sie ihre gewellten schwarzen Haare, die im Nacken zusammengebunden und nicht besonders gut gekämmt waren, außerdem ihre goldbraune Haut, die geschwungenen Nasenlöcher und die sinnlichen Lippen – alles Eigenschaften, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, der schönsten und angesehensten Frau der Grünen Inseln.
»Das ist doch Quatsch«, sagte sie kurz.
»Oh, zugegeben, aber die Menschen bekämpfen, unterdrücken und töten einander seit Jahrhunderten wegen solcher Unterschiede. Wenn man also …« Er brach ab und runzelte die Stirn. »Was ist?«
Rhosmari war erstarrt und blickte nicht mehr in den Spiegel, sondern war in Erinnerungen versunken. Warum passt die Zeit für Fioled, aber nicht für mich?, hatte sie ihre Mutter gefragt, und ihre Mutter hatte geantwortet: Weil Fioled nicht meine Tochter ist.
Bisher hatte sie geglaubt, ihre Mutter habe nur sie als ihr einziges Kind schützen wollen, während die Kinder anderer Eltern sie nichts angingen. Erst jetzt begriff sie, was ihre Mutter tatsächlich gemeint hatte: dass nämlich keine Tochter Lady Celyns je in der Welt der Menschen sicher sein würde, genauso wenig wie Celyns Vater es gewesen war. Von den Menschen getötet … und ich werde nicht zulassen, dass meiner Tochter dasselbe Schicksal widerfährt.
Hatte ihr Großvater deshalb sterben müssen? Also nicht wegen etwas, das er getan hatte, sondern wegen seines Aussehens?
Übelkeit stieg in Rhosmari auf. Die Vorstellung, noch länger an diesem Ort, unter diesen Leuten – diesen Menschen – zu bleiben, war ihr auf einmal unerträglich. Ohne auf Martins Proteste zu achten, drängte sie sich durch die Menge zum Ausgang und verschwand durch die Tür in der Nacht.
Als Martin sie wiederfand, saß sie zwei Straßen vom Theater entfernt auf einer Bank. Die Knie unter ihrem Rock hatte sie angezogen, den Kragen um ihr Gesicht hochgeschlagen. Sie blickte nicht auf, als er vor ihr stand.
»Was willst du hier?«, fragte er. »Du wirst den Rest des Stückes
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