Rhosmari - Retterin der Feen
Arm aus, so weit sie konnte – und spürte den runden Griff der Taschenlampe an ihrer Hand. »Ja.«
»Gut. Richte sie auf mich. Ich summe etwas, damit du mich hörst, falls du mich nicht mehr siehst. Und ich komme so schnell wie möglich wieder, okay?«
Rhosmari packte die Taschenlampe mit beiden Händen und zwinkerte die Tränen aus ihren brennenden Augen. Sie sah, wie die Muskeln von Timothys Schultern sich spannten und entspannten, während er sich auf den Ellbogen durch den Tunnel zwängte, wie seine Hüften und Knie sich bewegten und die schwarz-weißen Sohlen seiner Turnschuhe sich entfernten … Dann hatte das Dunkel ihn verschluckt und sogar sein Summen wich einer bedrohlichen Stille.
»Timothy? Timothy? «
»Was ist?«
Rhosmari atmete erleichtert auf. »Ich konnte dich nicht mehr hören. Ich dachte schon …«
»Ich bin gleich am Ende der Röhre angelangt. Hier ist was …« Rhosmari hörte ein Scharren, Knarren, dann einen erstaunten Ausruf und einen dumpfen Schlag und dann … nichts mehr.
Wieder stieg Panik in ihr auf und sie umklammerte die Taschenlampe so fest, dass ihre Finger vor Schmerzen pochten. Timothy war in eine Spalte gefallen, die Decke des Tunnels war eingestürzt, ein Raubtier hatte ihm aufgelauert, ihn an der Kehle gepackt und weggezerrt …
»Wenn Friede mit Gott … meine Seele durchdringt … ob Stürme auch drohen von fern …«
Das Lied klang heiser und abgehackt, aber jeder Ton klang wahr. Und Gott sei Dank wurde es auch lauter. »Mein Herze im Glauben … doch allezeit singt … Mir ist wohl … mir ist wohl in dem Herrn …«
Endlich tauchte Timothys Gesicht mit zusammengekniffenen Augen aus dem Dunkel vor ihr auf. Es war voller Erde. »Kannst du bitte woandershin leuchten?«, fragte er und hob geblendet die Hand. Unendlich erleichtert richtete Rhosmari den Strahl nach oben. In seinem gedämpften Licht sahen sie einander an.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Timothy. »Am Ende der Röhre kommt eine Tür. Ich dachte zuerst, sie würde klemmen, und als ich stärker drückte, ging sie plötzlich auf und ich fiel durch. Der Tunnel dahinter ist viel breiter.« Er stützte sich auf die Ellbogen und grinste Rhosmari an. »Ich singe sonst nicht so gut, vor allem nicht, wenn ich auf dem Bauch liege. Daran bist du schuld.«
»Ich? Was habe ich damit zu tun, wie … oh.«
»Oh?«
»Ich habe ganz vergessen, dass du ein Mensch bist.«
Timothy lachte auf. »Du hast also doch Humor.«
Doch Rhosmari hatte es nicht als Scherz gemeint. Sie hatte wirklich vergessen, dass Timothys Musikalität durch ihre Anwesenheit verstärkt wurde. Außerdem hatte sie, wie ihr erst jetzt auffiel, zufällig etwas wiederholt, das er bei einer früheren Gelegenheit gesagt hatte: dass er nämlich vergessen habe, dass sie eine Fee sei … und das war nun wirklich komisch.
»Sonst eigentlich nicht«, antwortete sie. Mutig fügte sie hinzu: »Daran bist du schuld.«
Timothy wurde wieder ernst und umfasste ihre Handgelenke. Er beugte sich vor und Rhosmaris Herz tat einen Sprung …
Doch er streckte nur den Hals, um an ihr vorbeisehen zu können. »Okay«, sagte er, »du hängst also irgendwo fest? Kannst du sehen, wo genau? Kannst du dich überhaupt bewegen?«
»Mein Rock hängt fest.«
»Aha.« Er nahm die Taschenlampe aus ihren Händen und ließ das Licht über die Röhre wandern. »Sieht aus, als hätte die Röhre hier eine Naht. Dreh dich ein wenig – vielleicht hilft das.«
Wie einfach! Das hätte ihr auch selbst einfallen können, wenn sie nicht besinnungslos vor Panik gewesen wäre. Sie drehte sich hin und her und etwas löste sich. »Es hat geklappt!«
»Gut. Ich krieche jetzt rückwärts und du folgst mir. Ich bleibe in deiner Nähe und ich bin schon einmal bis zum Ende gekrochen und es ist gar nicht schlimm, okay?«
Er hatte so viel Geduld mit ihr – mehr, als sie verdiente. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß auch nicht, warum ich solche Angst habe. Ich versuche sie mir auszureden, aber …«
»Viele Menschen leiden an Klaustrophobie. Meine Mutter mag enge Räume auch nicht. Zum Glück für dich habe ich das nicht geerbt, sonst wären wir jetzt beide durchgedreht.« Er richtete die Taschenlampe zur Seite, damit Rhosmari nicht geblendet wurde. »Bereit? Dann los.«
Rhosmaris Unterarme waren nass, ihre Ellbogen vom Entlangschieben wund und sie rutschte mit den Stiefeln immer wieder von der glatten Oberfläche der Röhre ab. Doch sie arbeitete sich tapfer voran, immer hinter Timothy
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