Richard Dübell
Vorgangs gekritzelt hatte, und stiegen damit die Treppen zum Archiv unter dem Dach hinauf. Eine niedrige Mauer aus Kartons am jenseitigen Ende des Speicherraums zeigte, wo die zur Vernichtung freigegebenen Akten darauf warteten, abgeholt zu werden. Die Kartons waren grau vor Staub. Sie warteten schon eine ganze Weile. Aktenvernichtung wurde in allen Bürokratien der Welt nur dann betrieben, wenn der Platz im Archiv ausging, was bei dem großzügigen Speicherraum des ehemaligen Klosters, in dem sich die Polizeiinspektion befand, nicht so bald zu erwarten war. Sie stellten rasch fest, dass die zuständigen Sachbearbeiter mit der Räumung der Regale im Verzug waren – die Vorgänge aus dem Jahr, in dem Hannelore Heigl Selbstmord begangen hatte, waren noch nicht in die Kartons gepackt.
Peter und Flora gingen die Regalreihen entlang. »Das ist einfacher, als wir gestern dachten«, sagte Peter gut gelaunt.
»Oder auch nicht«, meinte Flora, als sie wenig später vor dem Schrank standen, in dem sich die Akte befinden musste, und Peter vergeblich an dem Drehknopf zerrte, der den Rollladen hätte öffnen sollen. Der Schrank war versperrt.
»Hast du einen Schlüssel?«, fragte Peter.
»Hast du einen?«
»Nein.«
»Warum sollte dann ich einen haben?«
»Verflucht!«, zischte Peter und zog noch einmal an dem Drehknopf. »Und was nun?«
»Wir brauchen jemanden, der einen Schlüssel hat.«
»Das sind die Mädels von der Registratur. Die haben heute frei.«
»Genau wie wir«, sagte Flora düster.
»Kann ich euch helfen, Koll … oh?«, kam eine Stimme von der Tür her. Sie drehten sich beide um. Sabrina Hauskeck stand vor dem Eingang zum Archiv, zwei Aktenordner auf den Armen. »Hallo, Flora! Hallo, Herr Bernward.«
»Äh …«, sagte Peter, dem einfiel, dass er sich nicht für das gestrige Abendessen bedankt hatte.
Flora wies auf die beiden Ordner und lächelte mitfühlend. »Wieso bleibt einem immer nur das Wochenende fürs Aufräumen?«
Sabrina kam herein. Offenbar hatte auch sie an diesem Tag frei, denn statt eines Kostüms trug sie Jeans und eine kurzärmelige Bluse.
»Ich …« Sabrina räusperte sich. »Genau genommen sind das keine Akten zu einem Fall, an dem ich arbeite.«
»Sondern?«, fragte Flora.
Sabrina räusperte sich erneut. Sie war offenbar ebenso verlegen wie Peter. »Kochrezepte«, murmelte sie kaum hörbar.
»Koch …?«, begann Flora.
Sabrina wand sich. Sie konnte Peter nicht in die Augen schauen und wandte sich an Flora. »Kannst du dich an den Fall erinnern, bei dem dieser Typ seine Familie vergiften wollte?«, fragte sie hastig.
»Das hat doch nicht geklappt«, sagte Flora. »Seine Familie kam mit dem Leben davon, nachdem man allen den Magen ausgepumpt hatte. Hat er nicht vor Gericht angegeben, dass es ihm um das Essen leidgetan hätte, deshalb hätte er es nicht übers Herz gebracht, eine genügend große Dosis Gift hineinzukippen? War der nicht Hobbykoch?«
»Nein, echter Koch«, sagte Sabrina schnell. »Für einen Caterer in München. Also jedenfalls …«
Flora blinzelte. »Meine Güte! Hatte der Kerl nicht so eine Art Coming-out in der U-Haft? Hat er nicht ein schriftliches Geständnis für jeden verfasst, wen er alles auch noch hätte vergiften wollen?«
Sabrina nickte. Dann ließ sie den Kopf hängen. »Er hat bei jedem Geständnis ein Rezept des Gerichts dazugeschrieben, dem er das Gift beimischen wollte.« Sie sagte es kaum hörbar.
Peter hörte seine eigene Stimme in seinen Ohren klingen, als er sagte: »Und da haben Sie gestern eines von den Gerichten nachgekocht …«
Sabrina flüsterte kaum hörbar: »Gulasch.« Sie schluckte. »Seine Rezepte sind wunderbar. Man muss nur das Gift weglassen.«
»Da empfiehlt es sich doch, beim Kochen konzentriert zu sein«, sagte Peter.
Er sah ihren flehenden Blick und räusperte sich. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Flora plötzlich von ihm zu Sabrina und zurück blickte und dann unbewusst die Hände in die Hüften stemmte.
»Es war ein wirklich tolles Rezept«, flüsterte Sabrina.
»Das war es«, sagte Peter hilflos.
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ehrlich?«
»Ich habe es sicherheitshalber von meinem Vater vorkosten lassen.«
Sabrinas Miene verzog sich. »Ach, herrje!«, stöhnte sie verzweifelt.
Peter beeilte sich, seine Worte zu relativieren. Sabrinas tödliche Verlegenheit war geradezu greifbar. »Nur ein Spaß! Es war klasse, mein Pa hat drei Portionen gegessen und ich zwei, und sollte ich jemals in die Lage
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