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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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für dessen Tötung. Zumindest für das Faktum unverkennbarer Bißspuren sowie einer absenten Hand und eines absenten Beins.
    Auf den sieben Buchseiten, die aus Oborins Werk Handschrift und Lüge stammten und welche möglicherweise mittels dieser Hai-Fotographie markiert worden waren, setzte sich der Zwettler Graphologe in überaus präziser Weise mit zwei handschriftlichen Widmungen auseinander, die exakt denselben kurzen Satz zum Inhalt hatten, aber von zwei verschiedenen Personen notiert worden waren. Wobei es nun ausgerechnet diese Genauigkeit der Analyse war, welche Lukastik verdächtig vorkam, die anatomische Weise, mit der Oborin die beiden Schriftzüge vor seinem Publikum aufschnitt, die einzelnen Teile aneinanderreihte, ihre Bedeutung darlegte, um sie sodann wieder zusammenzusetzen, nur daß mit einem Mal den beiden gleichlautenden Sätzen eine völlig neue Bedeutung eignete und sie nur noch schwer mit ihrer ursprünglichen, ihrer reinen, lauteren Intention in Verbindung gebracht werden konnten.
    Bei dem Satz, den Oborin hier benutzte, um mit den Mitteln der Schriftpsychologie eine Lüge sowie einen Betrug zu enttarnen, handelte es sich um jene berühmte Widmung, die Friedrich Hölderlin in ein Exemplar seines Romans Hyperion notiert hatte: »Wem sonst als Dir«.
    Diese Zueignung war nun in Oborins Handschrift und Lüge sowohl im handschriftlichen Original Hölderlins abgedruckt als auch – nebenstehend – in der Fassung eines Briefschreibers unserer Tage, den Oborin als »Wortpiraten« titulierte und unter einem Pseudonym auftreten ließ: Herr S.
    Dieser Herr S. habe, lautete die Behauptung Oborins, die Frechheit besessen, sich nicht nur des Hölderlinschen Satzes für eigene Zwecke zu bedienen, sondern ihn auch noch so zu verwenden, als handle es sich dabei um sein persönliches geistiges Eigentum. Seine ureigenste Schöpfung.
    Daß sich Herr S. somit als »Wortpirat« betätigt habe, sei natürlich jedermann bewußt, der Hölderlins Widmung kenne. Doch dieses Wissen sei gar nicht vonnöten. Denn allein anhand einer graphologischen Untersuchung lasse sich nachweisen, daß Herr S. einen Diebstahl begangen habe, indem er an den Schluß eines im September 1993 verfaßten, unsignierten Briefs jenes »Wem sonst, als Dir« gesetzt hatte. Um solcherart die Vortäuschung falscher Tatsachen zu betreiben, nämlich die Vortäuschung brillanter Originalität. Über die Herr S. natürlich in keiner Weise verfüge.
    So weit so merkwürdig. Doch das eigentlich Delikate an Oborins Analyse bestand nun darin, daß er nicht nur versuchte, den ominösen Briefschreiber mittels einer graphologischen Sektion eines betrügerischen Aktes zu überführen, sondern auch noch erklärte, Herr S. hätte seinen »Wortraub«, ohne dies freilich zu ahnen, auf einer Lüge aufgebaut. Darum nämlich, weil Hölderlins Original bei aller Genialität einen ziemlichen Schwindel darstelle. Bei eingehender Betrachtung von Hölderlins Handschrift sei nämlich zweifelsfrei zu erkennen, daß der deutsche Dichter mit seiner Widmung beileibe nicht jene Dame gemeint habe, der er dieses Buch hatte zukommen lassen. Nein, vielmehr hatte er sich selbst im Sinn gehabt. Hinter der Zueignung »Wem sonst als Dir« halte sich ein »Wem sonst, als mir« verborgen.
    Oborin bekannte großmütig, sich nicht in die Literaturgeschichte einmischen zu wollen und sich eines Kommentars über das Verhältnis Hölderlins zu der Frau des Frankfurter Bankiers Gontard zu enthalten, jener Susette Gontard, die in der Gestalt der Diotima durch den Hyperion geistere. Er behaupte also nicht etwa, Hölderlin sei gar nicht in Frau Gontard verliebt gewesen, sondern er stelle bloß fest, daß Hölderlins Widmung alle graphologischen Züge einer Lüge trage.
    Selbige Lüge meinte Oborin in der Folge nachweisen zu können, indem er Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe obduzierte, und auch jene Zwischenräume behandelte, die sich an zwei Stellen ergaben, um eine »sprechende Leere« zu bilden. Nicht zuletzt verwies er auf die »gefüllten Bäuche«, die im Inneren einiger Zeichen existierten. Geschlossene und offene Bäuche.
    Erst gegen Ende seiner Analyse, nachdem er den »Körper« wieder zusammengesetzt hatte, ging er auf die Handschrift als Ganzes ein, ihren Schwung und ihren Duktus, ihr Charisma und ihre Seele – und natürlich ihre Verlogenheit. Egal, welchen Aspekt Oborin in Angriff nahm, stets entdeckte er einen Hinweis auf seine Theorie von der Lüge (im Falle Hölderlins)

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