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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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überprüfen und nach einer Auffälligkeit Ausschau zu halten. Dabei benutzte er die Nottreppe, die in einem auskragenden Bauelement, einem senkrechten Schlauch steckte und im Gegensatz zum übrigen Haus den Charme angehender Verlotterung besaß.
    Immer dann, wenn Jordan durch eine der schweren, grünen Metalltüren in jenes mit rohem Beton verschalte Treppenhaus gelangte, um ins darunterliegende Stockwerk zu steigen, hielt er kurz inne und lauschte einem anhaltenden Pfeifen, als hätten sich sämtliche Geräusche der Stadt zu einem einzigen, fadenförmigen Ton verdichtet, der nun an der äußeren Verkleidung entlangfuhr gleich einer energiereichen Ladung.
    So kam es also, daß Jordan etwa eine gute Stunde lang die menschenleeren Gänge und Flure der Reihe nach durchwanderte (die Menschen existierten jetzt nur noch mittels der Stimmen ihrer Fernsehgeräte oder dem Ticken ihrer Wecker) und auf nichts anderes stieß als ein paar leere Zigarettenschachteln und ein paar Glasscherben, bevor er dann jene fünfte Etage erreichte, deren Bedeutung ihm natürlich in keiner Weise bewußt war.
    Was sich jedoch rasch änderte, als er aus dem Augenwinkel heraus ein kleines, gefaltetes Stück Papier bemerkte, das in der Spalte eines Türstocks klemmte und auf dem sich die schematische Abbildung eines Auges samt seinem tropfenförmigen Gesichtsfeld abzeichnete.
    Jordan hielt inne und blickte eine Weile auf dieses Bildchen, das ihm zunächst einmal gar nichts sagte. Dann griff er danach, entfaltete das Papier und überflog den gedruckten Text über- und unterhalb der Abbildung des Auges. Er wußte sofort, daß es sich um eine Seite aus dem Tractatus logico-philosophicus handelte, auch wenn dieses Buch keineswegs zu seiner Leib- und Magenlektür zählte. Aber es versteht sich, daß er mehrmals darin geblättert hatte, wie um die Krankheit seines Vorgesetzten zu studieren. Wobei für Jordan das Krankhafte nicht in der Wahl dieses bestimmten Buches bestand, sondern in der bibelartigen Verwendung desselben. Davon abgesehen, hielt Jordan den Inhalt für gelehrte Idiotie.
    Er erinnerte sich jetzt an das einzige Gespräch, das über Wittgenstein geführt worden war, wobei er, Jordan, sich darüber mokiert hatte, daß der aus einem der reichsten österreichischen Häuser stammende Philosoph zwar die ein wenig arrogante Größe besessen habe, sein beträchtliches Vermögen zu verschenken, dabei aber so unglaublich asozial gewesen sei, diese Millionen ausgerechnet unter seine wohl auch nicht ganz mittellosen Geschwister zu verteilen.
    Lukastik hatte damals mit einem seltenen Feuer im Blick und einem ganz und gar freundlichen Lächeln gemeint, daß genau darin die Bedeutung von Wittgensteins Handlung liege, eben nicht bloß auf seinen Reichtum verzichtet zu haben, sondern auch darauf, diesen Verzicht als einen sozialen Akt zu entwürdigen, wie er dies noch fünf Jahre zuvor, 1914, getan hatte, als er bereit gewesen war, hunderttausend Kronen für bedürftige Künstler zur Verfügung zu stellen. Denn auch wenn Wittgenstein dabei anonym geblieben war, muß ihm später die Unsinnigkeit und Peinlichkeit einer solchen »guten Tat« zu Bewußtsein gekommen sein, was ihn wohl dazu animiert hatte, seine nächste Spende nicht an talentierte Künstler zu richten, sondern der Herstellung eines kriegswichtigen Mörsers zu widmen.
    Wittgenstein – so hatte Lukastik erklärt – mag ein merkwürdiger, widersprüchlicher und in seinen außerphilosophischen Einschätzungen mitunter kurzsichtiger Mensch gewesen sein, aber gerade der Umstand, daß er sein Geld nicht an die Armen verteilt hatte, sondern an die Reichen, noch dazu an die eigene Familie, beweist seine Einmaligkeit, seinen erhabenen Umgang gerade mit einer solch monströsen und eigentlichen grotesken Erscheinung, wie es ein millionenschweres Vermögen darstellt.
    Auch wenn Jordan am Ende dieses Gespräches unwillig den Kopf geschüttelt und darauf bestanden hatte, daß eine solche Schenkung ihm schlichtweg menschenverachtend erscheine, war er dennoch ein wenig beeindruckt gewesen. Gar nicht so sehr von Wittgensteins Handlungsweise, sondern vielmehr von Lukastiks Interpretation derselben.
    Und daran dachte er also, als er jetzt vor einer unbeschilderten Tür stand und eine Seite aus dem Tractatus in der Hand hielt. Überzeugt davon, daß Lukastik sie aus dem eigenen geliebten Exemplar gerissen und an dieser Stelle deponiert hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand anders an genau diesem Tag und

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