Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
empfand Lukastik ein Gefühl der Berührung, auch der peinlichen. Seine Schwester hingegen schien souverän wie eh und je, lobte das Kalbsbeuschel und plauderte ein wenig mit dem Wirt, ganz die Dame von Welt, die sie ja auch wirklich war. So sehr Dame von Welt, daß sie auch in einem einfachen Wirtshaus zu beeindrukken verstand, ohne sich deshalb anzubiedern und auch nur den kleinsten Teil ihrer Vornehmheit preiszugeben. Vielmehr präsentierte sie sich in einem wunderbaren Abendkleid, einem Streifen von Kleid, vergleichbar dem einzelnen, schmalen Wolkenband, welches das Blau des Himmels weniger schmückt als es unterstreicht, somit das Blau als Blau erst so richtig zu Bewußtsein bringt.
Nicht anders diente dieses Kleid dazu, den Betrachter daran zu erinnern, von welcher schönen und eleganten Frau es getragen wurde. Was ebenso für die Perlenkette galt, die perfekt den Kopf mit dem Rumpf verband, gleichzeitig aber auch so etwas wie eine magische Grenze zog, derart, daß sich die Frage nach der Echtheit der Perlen als geradezu banal ausnahm.
Vor allem aber bewies Lukastiks Schwester dahingehend Geschmack, daß sie die Leistung eines wahrhaft gelungenen Kalbsbeuschels zu beurteilen und zu schätzen wußte. Heutzutage keine geringe Leistung, wo kaum jemand in der Lage war, ein Stück Fleisch von einem anderen Stück Fleisch zu unterscheiden. Man hätte den Leuten Leguane vorlegen können, und sie hätten es nicht gemerkt.
An den würdevollen Umgang, den diese Frau ihrer Umgebung zuteil werden ließ, paßte sich nun auch der Wirt an, indem er nämlich auf ein untertäniges Gewinsel verzichtete und statt dessen das Kompliment bezüglich seines Beuschels mit dem bloßen Anflug einer Verbeugung entgegennahm. Einer Verbeugung, die mit Sicherheit nicht mit jenem Tod zusammenhing, wie Lukastik ihn geschaut hatte. Oder glaubte, geschaut zu haben.
Sodann nahm der Wirt die Bestellung von zwei weiteren Gläsern Weißwein entgegen und ging wieder hinter der Tresen. Er war ein dicker, schwitzender Mann, der hinkte. Dennoch war Lukastik kaum noch ein Mensch untergekommen, der sich erhabener durch einen Raum zu bewegen verstand.
»Vater wird wohl sterben«, sagte Lukastiks Schwester und zerteilte ein Stück ihres Knödels, was aussah, als entferne sie eine unsichtbare Gräte. Sie sprach wie nebenbei, weder triumphierend noch betroffen.
»Ich weiß nicht«, meinte Lukastik, »er ist im Grunde eine robuste Natur. Kränkelnd, aber robust.«
»Jede Robustheit hat ein Ende«, erklärte die Schwester. Und: »Obwohl ich es Mutter gar nicht vergönnen würde, ihn zu begraben. Wie ich sie kenne, wird sie kaum darauf verzichten, alles so zu gestalten, wie es Vater mit Sicherheit nicht gefallen hätte. Er haßt Lyrik. Also wird sie seinen Tod nur so mit Lyrik zustellen. Er haßt Beethoven. Versteht sich, daß es Beethoven regnen wird. Er haßt Kreuze. Also ein Kreuz. Er haßt Blumen. Also Blumen.«
Lukastik mußte an Barwick denken, jenen Sterbebegleiter, der neben seiner konventionellen Tätigkeit auch den bizarren Wünschen gewisser ausgewählter Selbstmörder nachgekommen war. Und dessen Pflichterfüllung Lukastik beinahe das Leben gekostet hatte. Wobei nicht allein Lukastik, sondern schlußendlich auch Barwick im Glück gewesen war. Nicht nur, weil Jordan alles richtig gemacht hatte, was man nur richtig machen konnte. Nicht nur, weil die Haie in dieser Nacht eher verspielt denn aggressiv gewesen waren. Sondern vor allem, weil die Behörden einen »Fall Barwick« zu vermeiden gedachten. Eine Festnahme des vielfach ausgezeichneten Bestatters hätte natürlich einen Wust unschöner Aufdeckungen nach sich gezogen. Weshalb man sich damit begnügte, auch Barwick eine bloße, wenngleich einprägsame Warnung zukommen zu lassen, nämlich zu vergessen, was zu vergessen war und sich in Zukunft auf die traditionelle Form seines Geschäfts zu beschränken.
Barwick war ein Irrer, gar keine Frage. Aber er war auch vernünftig genug, zu begreifen, gerade noch einmal davongekommen zu sein. Mit Sicherheit würde er nie wieder einem Selbstmörder zu irgendeiner Form tödlicher Selbstverwirklichung verhelfen.
Übrigens hatte die Gruppe von Jugendlichen mit dieser Sache nicht wirklich etwas zu tun gehabt. Oder bloß in einem dekorativen Sinn. Sie waren wie jede Nacht am Rande von Sharks Pool zusammengetroffen, um einem harmlosen Kult zu huldigen. Weder opferten sie sich den blinden Haien – wie dies einige Graffiti suggerierten –, noch versuchten
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