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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Mensch.
    »Kommen Sie herauf!« rief Slatin aus dem zweiten Stock in den Hof hinunter, ohne daß er für Lukastik sichtbar geworden wäre.
    Lukastik warf die halb gerauchte Zigarette auf den betonierten Boden, unterließ es aber, sie auszutreten. Was er prinzipiell nicht tat. Niemals hätte er eine Zigarette auch nur in einen Aschenbecher gedrückt oder deren Glut unters Wasser gehalten. Er vermied in jeder Hinsicht, ein solches »Glimmen« zu zerstören.
    Dabei von Aberglauben zu sprechen wäre der Sache nicht gerecht geworden. Lukastik hatte – wie viele andere Menschen auch – rein persönliche Verbote und Vorschriften entwickelt, die außerhalb der üblichen Zweckgebundenheit oder Konvention standen. Derartige Handlungen (berühmt ist das Überspringen von Bodenlinien) dienten einer inneren Ordnung. Und genau darum, weil der Sinn nicht offenkundig zutage trat und streng besehen auch gar nicht bestand, lag die Einhaltung der Regeln außerhalb jeder Diskussion. Lukastik hätte sich lieber seine Hand abschlagen lassen, bevor er eine gerauchte Zigarette ausgetreten oder ausgedrückt hätte. Vielmehr warf er die Kippen zur Erde oder ließ sie in der Kerbe eines Aschenbechers verglühen.
    Wer nun meinte, Lukastik wollte damit etwas bewirken, vielleicht auch nur seine verstorbenen Ahnen ehren oder ähnlichen Unfug, der irrte. Lukastik hielt sich an dieses Gesetz nicht des Gesetzes, sondern der damit verbundenen »Haltung« wegen. Wie er ausgerechnet auf Zigaretten gekommen war, konnte er selbst nicht sagen. Dies war auch gar nicht von Bedeutung. So wenig wie die Frage, warum Lukastik niemals zwei Bücher gleichzeitig aus einem Regal zog, jedoch ausschließlich mit beiden Beinen voran sein Bett verließ, Früchte nur mit der linken Hand pflückte, außerhalb der elterlichen Wohnung Suppenlöffel mied, folglich auch die meisten Suppen (nicht zwingend, denn schlürfen durfte er ja), des weiteren Fotos keinesfalls direkt übereinanderlegte, niemals in einem Satz die Worte »Nachmittag« und »müde« zusammen gebrauchte und peinlichst darauf bedacht war, beim Betreten eines neuen Raums einen seiner beiden Zeigefinger kurz auf die Lippen des geschlossenes Mundes zu legen. Dies alles blieb ohne eigentlichen Zweck. Aberglaube hätte ja bedeutet, ein Unglück abwehren oder ein Glück erzwingen zu wollen. Doch über den Niederschlag von Glück und Unglück machte sich Lukastik keine Illusionen.
    Ein Glück war es freilich, daß Lukastik seinen Zigarettenkonsum so weit im Griff hatte, nur selten in Innenräumen zu rauchen, wo man ihn natürlich immer wieder auf die unausgedämpften, erst im Bereich des Filters verglühenden und verkohlenden Zigaretten aufmerksam gemacht hätte. Um so mehr, als dabei ein unangenehmer Geruch entstand. Verständlicherweise hatte Lukastik nicht das geringste Bedürfnis, eine Eigenart zu erklären, die zu begreifen die wenigsten Menschen in der Lage waren. Auch jene nicht, die selbst einen vergleichbaren Tick entwickelt hatten.
    Durch die unverschlossene Wohnungstür kam er in den schmalen Vorraum und von dort in das nun leere Arbeitszimmer.
    »Kommen Sie weiter«, hörte er Slatins Stimme aus einem Nebenraum.
    Lukastik betrat ein Kabinett, wobei er in der üblichen Weise die Fingerkuppe seines linken Zeigefingers kurz an die geschlossenen Lippen hielt. Vor dem kleinen, offenen Fenster schaukelten die Blätter des Baums wie eine Schar winkender Schulkinder. Die Wände waren mit schnörkeligen Tapeten verkleidet, doch wegen der Dunkelheit war das Muster kaum auszunehmen. Am Rande des einzigen Möbels, eines tiefliegenden, ausgesessenen Sofas, hockte Slatin im Licht einer bogenförmigen Stehlampe und erinnerte an eins dieser Küken, die unter Höhensonnen schlummern. Er wirkte nicht ganz so putzig, aber ähnlich verdrückt und verschlafen wie alles frisch Geschlüpfte. In der einen Hand hielt er Dr. Pauls verschlossene Hülse, die andere ruhte auf der Lehne. Er forderte Lukastik auf, sich zu setzen. Dieser nahm am anderen Ende Platz, wobei er meinte, das Sofa greife nach ihm, ziehe ihn ein Stück nach unten. Es fiel ihm nicht gerade leicht, aus diesem lokusartigen Sitzmöbel heraus die Beine übereinanderzuschlagen, aber er tat es. Dann drehte er seinen Körper in Richtung Slatin und sagte: »Also?«
    Slatin hob die Hand von der Lehne und offenbarte zwischen seinen Fingern das größte der Fragmente, einen mehrere Zentimeter großen Splitter, der etwa die Hälfte eines vollständigen Zahnes

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