Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
sommerlichen Hinterhofbäume eine massive Dunkelheit hervorriefen, wie nicht einmal der Winter sie zustande brachte. Diese spezielle Nacht am Tage besaß etwas von einer in Schwarzweiß gefilmten Sonnenfinsternis und erzeugte eine ebensolche Stille. Die Leute in diesen Wohnungen und in diesen Hinterhöfen bewegten sich dann mit einer größeren Vorsicht oder tendierten überhaupt dazu, sich wenig oder gar nicht zu bewegen. Weshalb solche Räume völlig ungeeignet waren, jene Wendigkeit zeitgenössischen Privat- und Berufslebens zu entfalten.
In diesen Momenten großer Ruhe fühlte sich Lukastik mit dieser seiner Stadt versöhnt. So wie man sich mit einem Menschen versöhnt fühlt, der endlich tot auf der Bahre liegt und außerstande ist, zurückzureden. Was nicht heißen soll, Lukastiks Verhältnis zu Wien sei ein primär belastetes gewesen. Das nun wirklich nicht. Der Chefinspektor war keiner von denen, welche die Atmosphäre eines Ortes für das eigene Unglück verantwortlich machten und in jedem Häufchen Hundedreck, über das sie steigen mußten, ein Bild persönlichen Elends sahen. Auch litt er wenig an den politischen Verhältnissen der Stadt und des ganzen Landes. Er war allein darauf bedacht, sich aus allem Politischen herauszuhalten, sich am Politischen, ob verführerisch oder schändlich oder beides, vorbeizuwinden. Er stellte sich, wenn es nötig war, blind und taub und verwies auf das rein Faktische seiner Arbeit, wobei sein Vorgesetzter, jener Major, eine Art von Schutzschild bildete. Den Spruch, »nur seine Arbeit zu tun«, setzte Lukastik nicht bloß nach unten hin ein, um die eine oder andere Unhöflichkeit gegen Verdächtige, Zeugen oder Mitarbeiter zu begründen, sondern auch, um sich gegen Ansprüche von oben zu wehren. Neben der »Freiheit der Kunst« existierte für ihn auch eine »Freiheit der Polizei«, und damit meinte er im Grunde sich selbst. Was nicht bedeutete, daß er ausgesprochen ungesetzliche Handlungen vollzog, aber er war nun einmal extrem zielorientiert. Ein Verbrechen, vor allem die vermeintliche Exklusivität eines Verbrechens, schien ihn persönlich zu beleidigen, so daß er alles unternahm, um aus dem Besonderen einer kriminellen Handlung das Allgemeine wie das Alltägliche herauszuschälen. Das war sein großer Antrieb: Entmystifizierung.
Beim Durchsetzen dieses Ziels nahm er wenig Rücksicht, verhielt sich selten diplomatisch. Was wiederum dazu führte, daß er sehr wohl als ein politischer Mensch galt. So wie man ja auch glaubte, er sei ein enger Freund Peter Jordans. Nun, er war kein politischer, sondern ein musikalischer Mensch. Nicht in Dr. Pauls Sinn, welcher mit seinen Schuhen und seinem Körper den unhörbaren Ton einer Triangel erzeugte, sondern auf sehr konkrete Weise. Lukastik hatte nämlich, nachdem er von seinem Geburtsort Eisenstadt nach Wien gezogen war, Musikwissenschaften studiert und eine Diplomarbeit über den Einfluß atonaler Kompositionstechniken auf die Filmmusik der sechziger und frühen siebziger Jahre in Angriff genommen. Das Fach der Kriminalistik, das er nebenbei belegt hatte, war zunächst ein gemischter Akt aus Juxerei und Trotz gewesen. Einerseits, weil Lukastik mit seiner musiktheoretischen Arbeit ins Stocken geraten war und etwas vollkommen anderes tun wollte, um nicht verrückt zu werden. Andererseits, da er zu dieser Zeit eine Phase durchlebt hatte, die er später als »allürenhafte Ablehnung rechtsstaatlicher Prinzipien« definierte. Jedenfalls war ihm ein Studium der Kriminalistik als ein originelles und durchtriebenes Unternehmen erschienen. Von wegen Studium des Klassenfeindes.
Man könnte nun meinen, Lukastik hätte sich im Laufe der Zeit und in der bekannten Weise dem System angepaßt, die Seite gewechselt und so weiter, doch genaugenommen war es die Schönheit der Kriminalistik gewesen, die ihn überzeugt und die er alsbald als eine vom gesellschaftlichen Zweck unabhängige Disziplin erlebt hatte. Nicht anders als die Musik. Und dabei war es auch geblieben. Denn obgleich ja Lukastik hinter jedem komplizierten Verbrechen eine eher banale Wahrheit zu entdecken glaubte, hielt er den Weg, der zu dieser Entlarvung führte, für potentiell »schön«, vergleichbar einer musikalischen Idee.
Das mag seltsam anmuten, aber der Kriminalist Lukastik hatte eben nie aufgehört, ein Musikwissenschaftler zu sein. Und als solcher war er natürlich auch ein verkappter Komponist, ein in bloß geträumten und phantasierten Klangstücken schwelgender
Weitere Kostenlose Bücher