Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
keine Zeit gegeben, um in Ruhe zu frühstücken. Und das wolle er nun nachholen. Ungarn könne warten. Also haben wir uns auf die Terrasse von einem Gasthaus gesetzt und ein paar weiche Eier und Kaffee bestellt. Geredet haben wir nichts. Sind einfach in der Sonne gesessen und haben Eier aufgeschlagen. Danach hat sich Sternbach mit dem Wirten unterhalten. Mir kam es vor, als seien die beiden dicke Freunde. Auf jeden Fall sind wir nach dem Frühstück mit einem anderen Wagen weitergefahren.«
»Mit einem anderen Wagen?«
»Wie ich sagte, ein anderer Wagen. Ein nagelneuer Opel. Ein häßliches Auto. Häßlich, aber komfortabel. Sternbach hat behauptet, die Klimaanlage seines Golfs sei im Eimer. Darum der Opel.«
»Können Sie sich an das Kennzeichen erinnern?« fragte Lukastik.
»Von dem Opel? Wo denken Sie hin? Was interessiert mich ein Kennzeichen. Ein blauer Wagen eben, dunkelblau métallisé, ein Opel von der Art eines Mercedes. Aber fragen Sie mich nicht nach der Typenbezeichnung.«
»Und der Name von dem Wirtshaus, wo Sie gefrühstückt haben?«
»Keine Ahnung. Kurz vor Rastenberg. Ein typischer Landgasthof. Die Fenster gestopft mit Blumenkästen.«
»Direkt an der Straße?«
»An der Straße. Nicht zu verfehlen«, sagte Kosáry. Und: »Was ist jetzt eigentlich mit diesem Sternbach? Was sollte die ganze Aktion?«
Einmal mehr ignorierte Lukastik eine Frage und versprach statt dessen: »Ich bin so schnell es geht bei Ihnen. Und bleiben Sie, wo Sie sind.«
»Hier drinnen? Sicher nicht!« gelobte Esther Kosáry. »Ich stell mich hinaus. Da ist so ein offenes Bierzelt, wo die Leute in Schlangen stehen. Irgendwo dort können Sie mich finden. Und wenn mich einer anmacht, sag ich ihm, mein Freund ist bei der Polizei.«
»Nicht übertreiben«, ersuchte Lukastik und legte auf.
Keine Frage, eine große Last war ihm genommen worden. Guter Grund also, den Gelassenen zu markieren. An den Major gewandt, meinte er: »Sehen Sie. Wie ich prophezeit habe. Sternbach hat das Mädchen einfach auf die Straße gesetzt und ist weitergefahren. Leider mit einem anderen Wagen. Das Kennzeichen von dem Golf können wir vergessen.«
Dann beschrieb Lukastik die wenigen Fakten bezüglich des Wagentausches und nannte den Namen der Ortschaft, woraufhin nun auch der Major zu seinem Handy griff. Offenkundig sprach er mit Prunner und sprach von jenem Landgasthof. Es dauerte nun keine drei Minuten, bis Prunner zurückrief und bekanntgab, daß es sich bei dem Besitzer jener Gaststätte tatsächlich um einen Bekannten Sternbachs handeln würde, welcher auf die Bitte des Friseurs hin – der angeblich defekten Klimaanlage wegen – ihm seinen Opel geliehen hatte. Nicht ganz so nagelneu, wie Kosáry gemeint hatte, aber eben gepflegt und bloß einjährig.
Man wußte nun also um das richtige Kennzeichen, woraufhin der Major veranlaßte, daß ausgehend von jener Ortschaft, in der Esther Kosáry sich aufhielt, ein Ring von Straßensperren gelegt wurde, dessen Radius etwa jenen zwanzig Minuten entsprach, die vergangen waren, seit Sternbach sich seiner Mitfahrerin entledigt hatte. Jede Richtung, selbst jene, die zurück nach Zwettl führte, sollte einer rigorosen Überwachung unterliegen. Freilich war auch der Major – wie jeder andere – der Ansicht, daß es Sternbach nach Wien zog. Wohin es ja eigentlich alle zog, kriminell oder nicht. Wien war ja nicht einfach nur die große Stadt in diesem Land, die geliebte oder gehaßte Hauptstadt, sondern schlichtweg der einzig halbwegs erträgliche Ort, wobei sich das Erträgliche weder aus der kulturellen Vielfalt noch der Liebenswürdigkeit seiner Bewohner ergab – das wäre dann ein Witz gewesen! –, sondern aus dem Umstand resultierte, daß diese Stadt etwas von einer Abschußrampe an sich hatte. Einer Abschußrampe in die Welt gewissermaßen. Gewissermaßen sogar ins Weltall. Virtuell gesehen. Man hatte jedenfalls das Gefühl, daß über Wien etwas lag, was in anderem Zusammenhang als »Wetterfenster« bezeichnet wird und das den einzelnen Bürger dazu veranlaßte, sich einzubilden, daß wenn er nur wollte, er ohne Umstände in die Freiheit hätte flüchten können, wo auch immer genau diese Freiheit lag. Jedenfalls jenseits des Wetterfensters. Die Wiener hatten somit den Eindruck, sich jederzeit entfernen, jederzeit irgendein persönliches Unglück hinter sich lassen zu können, während man in den anderen größeren Städten dieses Landes, auch wenn dort möglicherweise weit sympathischere
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