Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
Füßen? Oder einen Immerkleber? Nein, Richard, mach dir nichts vor. Wir werden nicht nach Dänemark ziehen oder wohin auch immer du glaubst, daß Geschwisterliebe toleriert wird. Wir werden unsere Eltern nicht alleine lassen.«
»Unsere Eltern«, erinnerte Lukastik, »sind eine ganze Weile auch ohne uns zurechtgekommen. Mutter würde mich sowieso lieber heute als morgen aus der Wohnung werfen. Und was glaubst du, wird sie sagen, wenn sie mich das erste Mal aus deinem Schlafzimmer kommen sieht.«
»Mit Mutter werde ich schon fertig.«
»Meinst du wirklich?«
Es war ganz bezeichnend für das Verhältnis der Geschwister, daß die anfangs zögerliche Alexa – die ja gar nicht in die Pension Leda hatte kommen wollen – jetzt die Initiative ergriff, gleichzeitig realistisch wie optimistisch an die Dinge heranging, die Dinge anfaßte, ohne sich dabei in die Hose zu machen. Während Richard, der den ersten Schritt getan hatte und von einem Moment auf den anderen, siebenundzwanzig Jahre links liegenlassend, zum Hörer gegriffen und Alexa in sein Hotelzimmer bestellt hatte, nun an Flucht dachte. Nicht Flucht vor Alexa, aber Flucht vor den Folgen, die diese ungewöhnliche Beziehung zeitigen würde.
Wo war eigentlich die Selbstherrlichkeit, mit der Lukastik so gerne vor seinen Kollegen auftrat? Mit der er sich über Regeln und Bestimmungen erhob? Wo war seine maschinenhafte Erhabenheit?
Und genau darum sagte Alexa jetzt auch: »Reiß dich zusammen, Richard. Hör auf zu jammern. Wenn du Angst hast, dann sag es, und wir lassen es bleiben.«
»Ich will nichts bleibenlassen.«
»Dann benimm dich auch dementsprechend. Vergiß Dänemark.«
»Okay, ich vergesse Dänemark.«
Und als wäre das das Stichwort, kam das Essen. Irgendein Fleisch mit Rotkraut. Aber auf das Fleisch kam es nicht an, sondern auf das Rotkraut, dessen Aussehen und Geschmack von einem Küchengeheimnis bestimmt schienen, einer Hexerei, die vielleicht ähnlich jener war, welche Menschen zweihundert Jahre alt werden ließ.
Jedenfalls bewirkte dieses Essen eine gute Stimmung. Richard Lukastik hatte seinen kleinen Anfall überstanden. Kein Gedanke mehr an Wienflucht. Denn natürlich lag Alexa absolut richtig. So wenig ihr Bruder diese Stadt und ihre Menschen leiden konnte, so wenig war er in der Lage, sich diesem Ort zu entziehen. Und schon gar nicht konnte er aufhören, Polizist zu sein. Nein, er würde das schon aushalten müssen, wenn die Leute über ihn sprachen, als wäre er pädophil oder sonstwie abartig. Und was Mutter dazu sagte…
Auf diesen schönen Nachmittag und Abend folgte eine nicht minder schöne Nacht. Viele perfekte Häuser.
18
Lukastik erwachte spät. Kein Wecker läutete, kein Handy. Es war gewissermaßen Thomas Bernhard – der Wecker der Österreicher in den Achtzigerjahren –, welcher Lukastik aufschrecken ließ. Drüben am Tisch lag das Buch Alte Meister . Es war zehn Uhr. Eine Stunde noch bis zum Treffen mit Grünberg.
Lukastik küßte die Schlafende, machte sich rasch fertig, schrieb eine kurze Notiz und trat aus dem Zimmer. An der Rezeption ließ er sich einen Kaffee servieren.
»Eine schöne Frau«, sagte Frau Leda, die sich selten zu derartigen Äußerungen hergab.
»Meine Schwester«, erklärte Lukastik.
»Ach darum. Ich dachte nämlich schon, wie gut sie beide zusammenpassen.«
Was für ein treffender Kommentar! Aber so waren Schildkröten nun mal. Nach zweihundert Jahren waren sie in der Lage, das Wesentliche zu erkennen.
Leider besteht neben dem Wesentlichen auch das Alltägliche. Lukastik verließ die Pension, stieg in Olanders BMW (zwischenzeitlich hätten die Hiltroffer den Wagen am liebsten als von der Polizei gestohlen gemeldet), steuerte das Gefährt aus der Universumstraße hinaus und fuhr via Riesenrad hinüber zum Kunsthistorischen Museum.
Bekanntermaßen ist das Kunsthistorische Museum nichts anderes als ein Spiegelbild des Naturhistorischen Museums, wobei einige Leute es umgekehrt sehen, so wie ja auch manche Leute nicht ganz sicher sind, ob sie sich vor einem oder in einem Spiegel befinden. Technisch gesehen, handelt es sich um zwei langgezogene Bauten im neoklassizistischen Stil der Ringstraßenzeit, die sich gegenüberstehen wie auf einem Tennisplatz. Tennis ohne Ball, also ohne Zweck. Architektur als pures Unglück. Und in der Mitte, ein zusammengezogenes, zynisches Netz bildend, die hoch aufragende Statue der Maria Theresia.
Lukastik parkte den M1 in einer verbotenen Zone. Er winkte zwei an der
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