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Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Titel: Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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den löcherreichsten Orten gehören.«
    »Was soll das?« fragte Lukastik. »Wollen Sie mich verarschen?«
    »Ich meine es ernst. Und würde es Ihnen auch gerne beweisen. Aber Sie verstehen sicher, daß es mir unmöglich ist, jetzt diesen Tintoretto von der Wand zu nehmen, um Ihnen das dahinterliegende Loch zu zeigen. Es ist eine komische kleine Begabung, daß ich diese Löcher sehen kann. Na, sagen wir lieber, ich spüre sie. Schließlich verfüge ich über keinen Röntgenblick oder so. Ich könnte Ihnen auch nicht genau erklären, warum es diese Löcher gibt oder wie sie entstehen. Ich weiß nur, wie wichtig es ist, daß man sie abdeckt. Die Welt wäre sonst eine durchlässige, eine instabile. Vielleicht würde durch unsere Räume ständig ein unangenehmer Wind wehen. Oder ein Gestank. Oder ein Dröhnen. Vielleicht wäre es noch schlimmer. Vielleicht führen diese Löcher ins Jenseits, sodaß ein ständiges Hin und Her zwischen unserer und jener Welt stattfinden würde. Was ja niemand wollen kann. Die Konkurrenz in unserer Gesellschaft ist groß genug, da braucht es nicht noch einiger Toter, die rasch mal zu uns herüberschauen, um uns zu belehren. Und was denen sonst noch alles einfällt.«
    »Herr Anwalt!« unterbrach ihn Lukastik. »Was versuchen Sie mir zu sagen?«
    »Seien Sie nicht ungeduldig«, verlangte Grünberg. »Es ist überaus wichtig, daß Sie begreifen, wie sehr die ganze Malerei, die ganze Bilderproduktion, vom Vorzimmerspiegel über das gerahmte Foto bis hin zu all diesen herrlichen Tintorettos und Tizians und Bruegels, wie sehr dies alles dazu dient, Löcher zu verhängen, Löcher, die uns mit Sicherheit große Schwierigkeiten bereiten könnten. Gleich einem Leck in der Wasserleitung oder einer Grube auf der Straße oder diesem Ozonloch, von dem alle reden. Es ist die vornehme Aufgabe der Kunst, uns Probleme mit diesen Löchern in den Wänden zu ersparen. Zusätzlich haben wir auch den Genuß der Betrachtung. Das unterscheidet eine Gemäldegalerie davon, die Löcher bloß zu stopfen. So hat die ganze Kunst ja wahrscheinlich begonnen. Indem Urmenschen plötzlich Öffnungen in den Wänden ihrer Höhlen entdeckten und ihnen rasch bewußt wurde, wie wichtig es ist, diese zu verschließen. Um aber den Fluch dauerhaft zu bannen, haben sie die Malerei erfunden.«
    »Den Fluch der Löcher?«
    »Was ich Ihnen erklären will, Herr Chefinspektor – gerade einem Mann wie Ihnen, der in der exakten Wissenschaft der Kriminologie zu Hause ist –, ist, daß die Menschheit gelernt hat, alles Unbegreifliche ins Begreifbare umzukehren. Löcher in Wänden, die so aus dem Nichts auftauchen, sind unbegreiflich. Die Kunst ist zwar auch nicht immer ganz leicht zu verstehen, aber sie stellt nicht wirklich ein Rätsel dar, welches uns um den Verstand bringen könnte. Das erfreuliche Rätsel um die Kunst verbirgt das unerfreuliche Rätsel um die Löcher. Das ist der Trick der Kultur. Und es ist ein guter Trick. Aber man muß sich auch daran halten. Darum lassen wir die Bilder, wo sie sind.«
    »Aber Bilder werden doch auch umgehängt.«
    »Manchmal bewegen sich die Löcher. Manchmal kommen neue dazu und alte verschwinden. Aber das ist doch eher die Ausnahme. – Haben Sie Bilder zu Hause?«
    »Ja«, sagte Lukastik.
    »Haben Sie auch nur eines davon je umgehängt.«
    Lukastik dachte an die beiden Fotografien, die sein Zimmer schmückten. Die des Komponisten Josef Matthias Hauer und die der philosophischen Dauerlegende Ludwig Wittgenstein, wobei es schon erstaunlich war, daß Lukastik zwar das kleine, rote Tractatus-Büchlein aus seinem Leben verbannt hatte, nicht aber die auf ein Holzbrett aufkaschierte Fotografie Wittgensteins.
    Eines Loches wegen?
    Was für ein Unsinn! Allerdings wußte auch Lukastik, daß so einiger Unsinn in dieser Welt steckte. Ja diese Welt möglicherweise sogar im Gleichgewicht hielt. Dennoch behauptete er jetzt: »Ich bin sicher, schon eine ganze Menge Bilder umgehängt zu haben.«
    »Sie können sich nur nicht daran erinnern, nicht wahr?«
    »Hören Sie«, lenkte Lukastik vom Thema ab, »ich mag es nicht, mit jemand reden, der hinter mir steht und von dem ich nicht weiß, wie er aussieht.«
    »Sie überschätzen die Bedeutung von Gesichtern«, sagte Grünberg. »Aber wie Sie wollen. Sie sind der Polizist. Polizisten sind auf das Optische fixiert. Darum sehen sie vor lauter Bildern die Löcher nicht.«
    Grünberg trat zur Seite und nahm mit einer langsamen, aber fließenden Bewegung auf der

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