Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
bestimmten Straße wohnte, wagte es ja auch nicht, jemand anders genau nach dieser Straße zu fragen. Wenn er es doch tat: Alzheimer!
Aber Lukastik wußte, daß er richtig war. Denn schließlich befand er sich im Bereich der italienischen Schule. Soeben kam er an einem unglaublich prallen Pferdehintern vorbei, der dem Kentauren Chiron gehörte. Was für ein Glanz!, sagte sich Lukastik. Und überlegte, daß die alte Malerei den Versuch darstellte, die Dinge glänzen zu lassen, eine räumliche Tiefe dadurch zu erreichen, daß etwas glänzt und etwas nicht glänzt, oder daß etwas nach vorn glänzt und etwas anderes nach hinten glänzt. Dieser Pferdehintern von Crespi blendete derart, daß sich Lukastik seine linke Hand wie ein Vordach an die Augen halten mußte.
Er wechselte zu Luca Giordanos Fischesser. Hier waren es die kleinen, aalartigen Fische, die über den besagten metallischen Glanz verfügten. Und die man früher übrigens für Makkaroni gehalten hatte. Ob Fische oder Makkaroni war aber eigentlich egal, nur der Glanz zählte, das Reflektieren eines Lichtes…ja, eines Lichtes, das wohl nur von Gott stammen konnte. Denn selbst wenn Gott wenig bis nichts aus eigener Hände Arbeit geschaffen hatte – mitnichten die mühselig zu knetenden Planeten und die ebenso mühselig zu knetenden Menschen –, das Licht jedoch hatte er ganz bestimmt geschaffen. Das Licht ist immer die Sache des Meisters. Die Glanzpunkte, die so leicht und ohne jeden Aufwand zu setzen sind, wenn man nur weiß, wohin man sie setzen muß.
Lukastik bemerkte jetzt, wie sehr er auf die Busen schaute. Und zwar auf die Busen der gemalten Frauen wie auf jene der Besucherinnen (es war kein Schielen, sondern ein Betrachten; das ist wichtig zu sagen für die, die überall den Sexismus wittern). Lukastik fühlte sich in höchstem Maße erotisiert. Das hatte natürlich mit seiner Schwester zu tun. Der Blick für die Frauen, dieser Blick, der ihm so lange gefehlt hatte oder welcher bloß ein zynischer oder registratorischer gewesen war, war ihm zurückgegeben worden. Lukastik sah zwischen den gemalten und den lebendigen Brüsten hin und her, die Schönheit des Nackten wie des Angezogenen erkennend, den Reiz des Erstarrten wie des Bewegten. Er sehnte sich nach seiner Schwester, er sehnte sich nach Sex.
Dann fiel ihm wieder ein, warum er hier war.
Er löste sich von Caravaggios Rosenkranzmadonna, drehte sich um. Solcherart fiel sein Blick durch die langgestreckte Flucht dreier Räume und endete an dem am weitesten entfernten Punkt einer Wandecke, genau dort, wo das Bildnis von Tintorettos weißbärtigem Mann hing. Man konnte also meinen, daß der Weißbärtige die Madonna aus der Ferne betrachtete, der alte Mann die junge Frau. Vielleicht aber war es umgekehrt.
Erneut sah Lukastik auf seine Uhr. Genau elf – Bernhardzeit, oder, wie man so sagt, Showtime. Er setzte sich in Gang und marschierte hinüber in den Bordone-Saal, vor das Gemälde hin. Er blickte sich um. Ein paar Besucherpaare standen vor den Bildern, niemand aber, der sich als Dr. Grünberg zu erkennen gab. Also wandte sich Lukastik wieder dem Porträt zu und dachte: »Das Gesicht ist langweilig, eigentlich schlecht gemalt. Aber die Hand ist phantastisch.«
Das ist oft so. Die meisten Maler sind ausgezeichnete Handmaler, jedoch lange nicht so gute Gesichtsmaler. Tintoretto ist natürlich Tintoretto, aber im konkreten Fall bestätigte auch Tintoretto die allgemeine Tendenz gelungener Hände und weniger gelungener Antlitze.
Lukastik spürte, daß jemand in seinem Rücken zum Stehen gekommen war.
»Drehen Sie sich nicht um«, sagte der Mann hinter ihm.
»Wieso? Erschießen Sie mich sonst?«
»Ich bitte Sie! Hier im Kunsthistorischen Museum? Ich bin zwar Jurist, aber noch lange kein Banause. Nein, ich möchte, daß Sie sich auf das Gemälde konzentrieren und mir sagen, was Sie sehen.«
»Einen Tintoretto.«
»Was sehen Sie wirklich?«
»Ein relativ dunkles Bild.«
»Wissen Sie, was ich sehe?« fragte der Mann, der Grünberg sein mußte. »Ich sehe ein Loch, das von einem gerahmten Bild verdeckt wird.«
»Ein Loch?«
»Überall hier sind Löcher in den Wänden, kleine, große, manche gehen tief ins Mauerwerk, schlängeln sich nach oben, nach unten, zur Seite, führen weiß Gott wohin, andere messen bloß ein paar Zentimeter. Die Welt ist voll von solchen Löchern. Praktisch jede Wand hat ein derartiges Loch. Darum auch die Bilder, nicht nur in den Museen, welche aber naturgemäß zu
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