Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
Fall, daß er sich verirrte und den Navigator um Auskunft fragen mußte. Natürlich wäre es besser gewesen, er hätte sich von Alexa begleiten lassen, da sie nicht nur ein wenig, sondern recht passabel die Landessprache beherrschte. Aber Lukastik wollte seine Geliebte schlafen lassen. Es hatte etwas Schreckliches, einen Menschen aufzuwecken, gleich wie sanft man es versuchte. Es war immer brutal. Zudem fürchtete Lukastik, Alexa könnte, wenn er sie in Straubs Wohnung mitnahm, ihn dabei beobachten, wie er eine kleine Plastikfigur an seinen Platz zurückstellte. Wie hätte er das erklären sollen? Hätte er gestehen sollen, nur aus diesem einen Grund nach Mailand gereist zu sein? Nein, da war es schon besser, zur Not ein wenig herumzuirren.
Doch es ging schneller als gedacht. Freilich könnte man auch meinen, daß der Lancia in Pferdemanier von selbst den richtigen Weg fuhr.
So wie Lukastik dies auch in Wien zu tun pflegte, parkte er den Wagen an einer unerlaubten Stelle, direkt vor einen Spielplatz hin, und marschierte dann zu dem Haus, in dem nun Straubs Neffe wohnte. Lukastik kam unangemeldet. Der junge Mann stand mit einem Handtuch bekleidet in der Türe. Sein glatter, dünner Körper perlte vom Naß. Ein mit Kohlensäure versetzter Mensch. Lukastik hielt ihm seinen Dienstausweis entgegen. Der junge Mann sagte etwas auf englisch. Lukastik tat so, als verstehe er kein Englisch, und marschierte an dem Halbnackten vorbei in die Wohnung.
Auch wenn Orientierung nicht seine Stärke war, hatte er noch ganz gut in Erinnerung, wo die Figuren gestanden hatten. Auf einem länglichen, dünnbeinigen, gegen die Wand gestellten Tischchen, über dem ein gerahmtes Foto hing. Er hatte dieses Foto beim ersten Mal nicht näher betrachtet. Es hatte ihm nichts gesagt. Jetzt sagte es ihm etwas. Man sah darauf die Hiltroffer Fabrikanlage, schwarzweiß, düster, baufällig, offenkundig eine historische Aufnahme. Es war deutlich die Aufschrift über dem Torbogen zu lesen, nach welcher nicht dem Arbeiter, sondern der Arbeit ein Recht auf Freiheit zustand.
Lukastik konnte nur schwer der Versuchung widerstehen, das Bild von der Wand zu nehmen und nachzusehen, ob sich dahinter ein Loch befand. Er fürchtete sich vor der Wahrheit, vor beiden Wahrheiten. War da ein Loch, so hatte Grünberg recht und die Welt war eine löchrige und instabile, die man mit Unmengen von Bildern flicken mußte. Existierte jedoch kein Loch, so bestätigte dies die Verrücktheit Dr. Grünbergs, welcher immerhin der Mann war, von dem sich Lukastik hatte zwingen lassen, nach Mailand zu fliegen, um eine Plastikfigur an ihren alten Platz zu befördern.
Was allerdings nicht klappen würde. Der Tisch war leer.
Lukastik wandte sich um. Er konnte nun doch Englisch und fragte den jungen Mann, wo die Figuren hingekommen seien.
Straubs Neffe zuckte mit den Schultern und erklärte, daß das niemand etwas angehe. Er habe diesen Kram von seinem Onkel geerbt und dürfe damit machen, was er wolle.
»Ich möchte Ihnen keine Gewalt androhen…«, sagte Lukastik.
Der Student grinste. Er war wohl einer von denen, die meinten, ihre Rechte zu kennen. Nun, was auch immer er glaubte, es hatte in diesem Moment keine Bedeutung. Lukastik stand unter Druck. Er ging auf den jungen Mann zu. Dieser zuckte ein wenig. Lukastik sagte erneut: »Ich möchte Ihnen keine Gewalt androhen…«
»Sie wiederholen sich«, erklärte der Student.
»Ich möchte Ihnen keine Gewalt androhen…«
»Schon gut«, meinte der Junge, der sich gar nicht mehr so sicher über seine Rechte war. Er gestand, die ganze blöde Sammlung verkauft zu haben. Allerdings hätten zwei Figuren gefehlt, ohne daß er sagen könne, wo sie hingekommen seien. Typisch Italien. Ständig würde etwas verschwinden. Mit oder ohne Absicht. »Wir werden eines Tages aufwachen, und Italien wird verschwunden sein.«
»An wen haben Sie die Sammlung verkauft?« führte Lukastik das Gespräch zurück zum Wesentlichen.
»An einen Mann, der mir seinen Namen nicht nannte. Heute morgen.«
»War er alleine?«
»In Begleitung einer Frau. So eine blonde Deutsche. Oder blonde Schweizerin. Blond jedenfalls.«
»Beschreiben Sie den Mann«, forderte Lukastik.
»In Ihrem Alter. Ein bißchen aufgedunsen. Versoffen, würde ich sagen. Trug ein gestreiftes Hemd. Ein Ausländer, sprach aber ganz gut Italienisch.«
Lukastik war sofort überzeugt, daß diese Beschreibung sich nur auf Vinzent Olander beziehen konnte. Die blonde Deutsche mußte dann
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