Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
andere Richtung, griff nach dem Objekt und ließ es in seiner Tasche verschwinden.
Von nun an würde Olander dieses Holzstück stets mit sich führen. Manchmal weiß man eben, daß man etwas Bestimmtes tun muß, weil man weiß, daß es sich einmal als wesentlich herausstellen wird. (Daß dies freilich sehr oft gar nicht der Fall ist, daß wir ständig Dinge mit uns schleppen, die sich niemals als irgendwie bedeutsam erweisen, ist ein anderes Thema. – Hoffnung ist eine Prothese, mit der man wieder gehen kann. Immerhin.)
Einige Tage nach der Erbeutung dieser leicht lädierten Giraffe läutete in Olanders kleinem, dunklen Ein-Mann-Zimmer das Telefon, und Longhi meldete sich. Olander hatte erwartet, daß Straubs Schwester den Diebstahl doch noch bemerkt und gemeldet hatte und daß also erneut mit Ausweisung gedroht wurde. Aber es ging um etwas anderes, etwas wirklich Entscheidendes. Longhi sagte: »Ich glaube, wir haben die Frau gefunden.«
Kurz darauf stand Olander in Longhis Büro. Er bemühte sich, seine Aufregung im Griff zu behalten. Er wollte jetzt keinen Fehler machen. Vor allem wollte er vollkommen konzentriert sein, konzentrierter als die Polizisten, deren Töchter oder Söhne ja nicht verschwunden waren, die hier einfach ihren Job taten und ständig etwas übersahen, weil sie an anderes dachten. Nicht Olander, der jetzt fragte: »Wo ist sie?«
»Nebenan«, antwortete Longhi, »wir befragen sie gerade.«
»Und Clara?«
»Tut mir leid. Noch keine Spur. Diese Frau – ihr Name ist Pero, Andrea Pero –, sie lebt bei ihrer Familie. Wir haben die Wohnung auf den Kopf gestellt. Schlimme Verhältnisse. Jede Menge Geschwister, kaum zu zählen. Die Mutter kann sich fast nicht bewegen, ein Monstrum, das im Stuhl klebt. Kaum zu glauben, wenn man die Tochter sieht. Vater gibt es keinen, keinen offiziellen. Man könnte meinen, die Mutter hat ihre Kinder vom vielen Essen bekommen.«
»Wie haben Sie diese Andrea Pero gefunden?«
»Ein Anruf. Anonym. Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft. Es ist eine Schweinerei, daß uns nicht schon früher jemand Bescheid gegeben hat. Das Phantombild ist wirklich gut. Ein paar hundert Leute hätten die Frau erkennen müssen. Haben sie wahrscheinlich auch, aber…tja, dort wo die Peros leben, hält man die Polizei gerne aus allem heraus.«
»Gibt sie zu, daß sie Clara entführt hat?«
»Sie gibt zu, das Kind aus dem Auto geholt zu haben. – Kommen Sie, Olander. Hören Sie es sich selbst an.«
Longhi bat Olander, ihm in den kleinen dunklen Extraraum zu folgen, ein Kämmerchen, das zwischen den Zimmern lag und von dem aus man durch eine große Scheibe in den Verhörraum sehen konnte. Mehrere Beamte drängten sich vor dem Glas. Der Raum war wohl nachträglich hineingezwängt worden, wie man ja auch mitunter Toiletten in fix und fertige Häuser zwängt, und Kinderzimmer, und Krankenzimmer, und all die Dinge, an die anfangs nicht gedacht wird.
Durch einen Lautsprecher hörte man die Stimme Andrea Peros, die gerade die Fragen eines einzelnen Beamten beantwortete. Sie sprach leise, aber nicht schwächlich. Auch ihre Körperhaltung ließ bei aller Distanz, die sie ausdrückte, kein Gefühl der Furcht erkennen. Sie war mitnichten eine von denen, die sich würde einschüchtern lassen. Und ebensowenig eine, die man provozieren konnte. Sie saß da und redete in einer Weise, als sei das einzige, was sie anzubieten vermochte, die Wahrheit.
Auf den ersten ungeübten Blick konnte man diese Frau für im Grunde ungefährlich halten. Aber was heißt das schon? Auch Korallen wirken ungefährlich. Aber sie sind es nicht. Nicht, wenn der andere ein Plankton ist.
Jedenfalls war es so, daß Andrea Pero zugab, Clara mit sich genommen zu haben. Sie sei zufällig vor Ort gewesen, als der Unfall geschah, und hätte nichts anderes im Sinn gehabt, als das kleine Mädchen aus dem Gefahrenbereich zu befördern. Dann aber habe sie sich zusammen mit dem Kind – ihrerseits unter Schock stehend – immer weiter vom Unfallort entfernt, nicht zuletzt wegen der Vorstellung, daß soeben der Vater dieses Kindes in den Flammen umkam. Daß sein Körper verkohlte. Sie wollte der Kleinen einen solchen Anblick ersparen. Unbedingt. Eigentlich habe sie vorgehabt, Clara zur nächsten Polizeistation zu bringen. Aber das Mädchen sei völlig verschreckt gewesen, habe sich ganz fest an ihren Körper gedrückt.
»Ich mußte ihr versprechen«, erzählte Pero, »sie nicht alleine zu lassen. Ich wußte nicht, was ich tun
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