Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
geht, besteht auch in der Unterwelt eine gewisse Sensibilität. Nicht unbedingt bei Kindern, die aus Afrika oder Albanien stammen, ich muß das so sagen, aber in Ihrem Fall… Vertrauen Sie mir. Ich werde mehr tun, als bloß die Routine abspulen lassen.«
Nun, das mochte schon stimmen. Aber es nützte nichts. Gleich, was Longhi in der Folge unternahm, man kam keinen Schritt weiter. Die Frau, von welcher ein erstaunlich stimmiges Phantombild entstand, blieb ein Phantom, eine fürwahr gespenstische Erscheinung. Sie hatte auf diesem Bild etwas von einer Heiligen, verband das Karge mit dem Weichen, das Glatte mit dem Tiefen – ein Gesicht wie eine ruhige Meeresoberfläche; und man weiß ja, wie es unter Meeresoberflächen aussieht, wie kalt und dunkel es da wird. Dazu kam wohl auch, daß der Phantomzeichner seine Freude daran gehabt hatte, diesen ganz bestimmten Ausdruck in das Gesicht zu legen: eine Dämonie des Heiligen.
Es war nun sicherlich ein Glück, daß der Mann mit dem Feuerlöscher die große Unbekannte ebenfalls gesehen hatte, das Phantom somit eine gewisse Festigkeit und Stofflichkeit erhielt und nicht der Verdacht entstehen mußte, dies alles entspringe allein Olanders Phantasie. Blieb natürlich die bedenkenswerte Behauptung des Zeugen, besagte Frau sei vorne aus dem Taxi gestiegen, bevor sie dann das Kind von der Hinterbank geholt und mit sich genommen habe. Nicht, daß der Mann einen Eid darauf geschworen hätte, immerhin hatten ein ziemliches Durcheinander und die größte Aufregung geherrscht. Aber in seiner Erinnerung sah es nun mal so aus. Weshalb Olander weiterhin im Verdacht stand, etwas zu verheimlichen. Immer wieder wurde er in Longhis Büro zitiert, wo er geduldig die Fragen über sich ergehen ließ. Nur einmal sagte er: »Sie kaprizieren sich so auf mich, weil Sie sonst nichts in der Hand haben, nicht wahr?«
Und Longhi antwortete: »Da könnten Sie sogar recht haben.«
4
Vinzent Olander und Yasmina Perrotti sahen sich jetzt bloß noch in Gegenwart von Longhi. Yasmina vermied es dabei, ihrem Exmann auch nur in die Augen zu schauen. So wie sie es vermied, ihn direkt anzusprechen. Sie redete allein mit Longhi. Es war jetzt ein tonloser Haß, den sie in der Art eines blind gespielten Querpasses auf Olander ablud. Dazu kam, daß Ugo Albani einen Privatermittler in die Sache einbezogen hatte, einen als seriös geltenden ehemaligen Militäroffizier, der sich ebenfalls darauf zu konzentrieren schien, Olander etwas anzuhängen. Zumindest in dessen Privat- und Geschäftsleben forschte. Was Olander als unabwendbar hinnahm. Er blieb in Mailand, gesundete nach und nach und begann nach und nach mit eigenen Ermittlungen, indem er etwa den Mann mit dem Feuerlöscher aufsuchte, im Grunde seinen Lebensretter. Einen Lebensretter mit Abstrichen, eingedenk dessen belastender Äußerungen.
Der Mann war ein kleiner Angestellter, ein freundlicher, korrekter Mensch mit Frau und Kind, der nahe Monza lebte und jeden Tag nach Mailand in die Arbeit fuhr. Olander gab natürlich vor, sich einfach bedanken zu wollen. Der Mann erklärte, nur seine Pflicht getan zu haben. Auch betonte er zum wiederholten Male, in keiner Weise beschwören zu wollen, die Frau sei aus dem Taxi gestiegen. Dies war bloß sein Eindruck gewesen. Doch er könne und wolle nicht ausschließen, sich zu irren.
»Was hatten Sie eigentlich in der Stadt zu tun?« erkundigte sich Olander unvermutet. »Ich meine mitten im Zentrum, um diese Zeit, wo Ihre Firma doch weit außerhalb liegt.«
»Wie bitte?« Der Mann verengte sein Augenpaar. Seine Freundlichkeit vereiste augenblicklich.
»Sie brauchen nur zu antworten.«
»Wer glauben Sie, daß Sie sind, mich einer Befragung zu unterziehen?« fragte der Lebensretter den Geretteten.
»Seit drei Wochen ist mein Kind verschwunden«, erinnerte Olander. »Das befähigt mich ganz sicher, die eine oder andere Frage zu stellen.«
»Das mit Ihrem Kind tut mir leid. Ich bin ja selbst Vater, ich weiß… Aber deshalb müssen Sie mir nicht vorhalten, daß ich an diesem Tag und zu dieser Stunde dort vorbeikam. Wie noch ein paar andere Leute.«
»Richtig, und wie auch diese Frau. Aber ich werfe Ihnen das ja nicht vor. Ich habe nur gefragt, wieso Sie…«
»Ich weiß, was Sie gefragt haben, aber ich verstehe den Sinn der Frage nicht.«
»Bin ich denn der erste, der wissen will, wieso Sie an diesem Nachmittag durch die Innenstadt gefahren sind?«
»Ja, Sie sind der erste«, sagte der Mann. »Bisher kam noch keiner
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