Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
hatte, wie bei Organismen, deren Anpassung flink über die Bühne gehen muß, wenn sie nicht aussterben wollen.
»Ach so! Dann sind wir natürlich richtig«, sagte der Taxifahrer.
Die Hölle bestand in diesem Fall aus einer Reihe schäbiger Wohnhochhäuser, die dastanden wie besoffene Männer vor einer Pißrinne, schön geordnet, aber desolat. Irgendwann würde einer umfallen und die anderen mitreißen.
Die Plätze waren leer. Ein Fußballspiel hatte die Menschen zur Ordnung und an die Fernseher gerufen. Aus den offenen Fenstern tönte die aufgeregte Stimme des immer gleichen Kommentators. Er hörte sich verzweifelt an. Etwas ging schief mit Italiens Nationalmannschaft. Vielleicht hatte sie es mit einem Gegner zu tun, der sich von ihrem Spielsystem nicht und nicht narkotisieren ließ.
»Könnten Sie auf mich warten?« fragte Olander den Fahrer.
»Wie lange?«
»Bis ich zurückkomme«, antwortete Olander, stieg aus und ging auf den Eingang eines der Gebäude zu. Er suchte den Namen »Pero« und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. Eine Knabenstimme meldete sich.
»Ich möchte Andrea sprechen«, erklärte Olander.
Die Türe sprang auf, und Olander betrat einen Gang, welcher nun vollends das Bild bestätigte, das man sich von solch trostlosen Orten gerne macht. Zersprungene Kacheln an den Wänden, Graffitis frei von künstlerischen Ansprüchen, Postkästen, die nicht so aussahen, als würden sie je wieder Post aufnehmen. Die Mieter, die hier lebten, bekamen keine Post mehr, nicht einmal Rechnungen oder Mahnungen. Sie mußten sich ihre Mahnungen schon selbst abholen. Wenn mitunter die Polizei erschien, so war dies quasi der einzige stofflich reale Bezugspunkt zur Außenwelt. Die Polizei als letztes Bindeglied zur Zivilisation, auch wenn das niemand hier so begriff.
Olander stieg in den Aufzug, der auch nicht übler aussah als das Treppenhaus. Trotz aller Ruckelei gelangte er unfallfrei ins vierzehnte Stockwerk.
Ein Junge stand an einer offenen Türe, ein netter Junge, schien es. Keins von diesen Kampfhundgesichtern. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er Olander an der Hand und führte ihn in die Wohnung. Olander ertappte sich, wie er jetzt an seine goldene Uhr dachte. Und zwar mit gutem Recht. Der Junge war ein Taschendieb, meistens jedoch ein Dealer, aber in guten Momenten ein Taschendieb. Im übrigen auch ein genialer Mathematiker, aber es war leider höchst fraglich, ob er selbst dies je erkennen würde. Oder jemand anders. Er lebte nun mal nicht in Mathematien, sondern in der Bronx. So simpel das klingt, so simpel war es.
Die Uhr aber klaute er nicht. Nicht von einem Mann, der seine große Schwester besuchte. So jemand konnte ein Heiliger oder ein Teufel sein. Jedenfalls niemand, den man bestahl.
Der Junge lenkte Olander durch das Wohnzimmer, dessen Zustand das Treppenhaus zitierte. Eine Menge Halbwüchsiger saßen auf dem eigenen Müll und starrten in den Fernseher. Hier endlich waren ein paar Mördervisagen zu erkennen. Aber niemand beachtete Olander. Auch die Mutter dieser Kinder nicht, tatsächlich ein Fleischberg von Frau, die aber recht erhaben in ihrem breiten Fauteuil saß. Eine Termitenkönigin, könnte man sagen, die aufgehört hatte, für Nachwuchs zu sorgen. Und für die es also keinen Grund mehr gab, sich irgendwie zu bewegen.
Solche Königinnen verenden. Aber man kann natürlich auch langsam verenden.
»Hier bitte«, sagte der kleine Junge und dirigierte Olander durch eine recht deutlich in die Wand gehauene Türöffnung. Offensichtlich waren mehrere Wohnungen auf eine saloppe Weise zusammengelegt worden. Diese ganze Etage war ein Reich der Peros.
Der Junge klopfte. Die Türe ging auf, und der Junge verschwand.
»Sie!?« staunte Andrea Pero.
»Ja ich. Lassen Sie mich rein?«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Vielleicht kann ich Ihnen ein Geschäft anbieten.«
»Ich dachte, ich bin gar nicht die, die Sie suchen.«
»Natürlich sind Sie es«, sagte Olander.
Andrea Pero legte ihren Kopf schief und betrachtete Olander aus Rehaugen. Dann sagte sie: »Na gut.« Und machte einen Schritt zur Seite.
Die Einrichtung überraschte. Olander hatte nicht mit einem solchen Kleinmädchenzimmer gerechnet. Barbies World. Nagellackfarben. Plüschtiere, die kaum Platz ließen. Ein Schminktisch. Vorhänge wie aus einem Hochzeitskleid geschnitten. Ein Kristalluster aus Plastik. Kissen in Herzform. Ein üppig gerahmtes Foto von Lady Di.
»Wohnen Sie hier?« fragte Olander
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