Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
viel mehr wert als ein simples Monster. Dieses Wasser war ein Fossil, ein in sich geschlossener urzeitlicher Komplex, sehr viel älter als das übliche fossile Wasser, auf das man in tiefen Gesteinsschichten stieß. Nein, dieses Wasser hier war gut vier Milliarden Jahre alt, stammte also aus einer Zeit, als sich das erste Leben entwickelt hatte und aus einem anorganischen schwarzen Zylinder ein organisches weißes Kaninchen herausgesprungen war.
Der an seiner tiefsten Stelle keinen Meter messende Unterwassersee, der passenderweise – als hätte Marlies Herstal es vom ersten Moment an gewußt – von den Einheimischen den Namen Josefsee erhalten würde, dieser Josefsee also, war ein Überbleibsel jener frühen Hydrosphäre, die allgemein als Ursuppe bezeichnet wird. Und hätte es nicht so vollkommen paradox geklungen, so hätte man eigentlich von einer »Versteinerung« sprechen müssen. Einer Versteinerung im Zustand des Flüssigen. Ja, dieses Wasser funktionierte wie ein erstarrtes Material. Und indem Marlies Herstal eine Probe genommen hatte, war das so gewesen, als hätte sie einen kleinen Brocken heruntergeschlagen.
So ging es oft aus. Man suchte einen Vogel und fand statt dessen sein Nest. Die Wissenschaft geriet mit diesem Fund nicht nur in allergrößte Aufregung, sondern auch in allergrößte Unordnung. Einige Ansichten mußten revidiert, neue Modelle entwickelt werden. Eine bislang unbekannte Säure war entdeckt worden, eine Säure, die alles nur noch schwieriger und komplizierter machte. Pläne, den gesamten »Stein« zu bergen, mußten wieder verworfen werden. Auch weil die Bevölkerung ernsthaften Widerstand androhte. Hiltroff war berühmt geworden. Nicht wie zuvor, dank Seeschlange, auf eine clowneske Weise, sondern nun auf eine ernsthafte, auf eine gleichzeitig wissenschaftliche wie mirakulöse. Hiltroff hatte sich praktisch zum Zentrum der Erde gemausert, zum Ausgangspunkt allen Lebens. Nie und nimmer wollte man bereit sein, sich den Josefsee von der internationalen Wissenschaft rauben zu lassen, um dann nachher wieder nichts anderes zu sein, als ein hinterwäldlerisches Kaff mit viel Nebel und wenig Sonne. Auch bestanden große Ängste, mit der Hebung des Josefsees könnte irgendeine Form von Kontamination einhergehen. Schlimm genug, daß Marlies Herstal eine Probe genommen und diese über die Grenze und in ein Münchner Labor hatte bringen lassen.
Diese Probe ging als »Herstal-Fragment« in die Geschichte ein. Und wenn man schon nicht in der Lage war, die gesamte Hiltroffer Ursuppe aus dem See zu heben – den Josef aus der Maria –, wollte man wenigstens mit diesem einen »Fragment« experimentieren. Den Stein zum Leben erwecken, die erstarrten Prozesse erneut in Gang setzen.
Die Frage war aber die: Wie macht man etwas flüssig, was schon flüssig ist?
Noch aber befand man sich weit entfernt von all den Aufregungen und Streitereien um ein vier Milliarden Jahre altes Wasser. Das U-Boot tauchte auf und wurde von einer enttäuschten Menschenmenge in Empfang genommen. Enttäuscht darum, weil man natürlich gehofft hatte, etwas Dramatisches würde sich ereignen. Statt dessen verließen die vier Passagiere das U-Boot, ohne von einer Sensation zu berichten. Marlies Herstal sprach bloß von dem, was sie nicht gesehen hatte. Kein Wort also über einen unterirdischen See.
Lukastik und Olander hatten natürlich sofort versucht, Irene Kasos und das Kind, das Clara sein mußte, in der Menge auszumachen. Aber schon vom Boot aus, den Feldstecher Marke Verlaine benutzend, war zu erkennen gewesen, daß die Frau und das Kind verschwunden waren. Was sich jetzt nur noch bestätigte.
Lukastik ging zurück zum Boot und sah sich den Gegenstand an, den man aus dem Grund des Mariensees herausgegraben hatte. Tatsächlich handelte sich um einen Motor, wahrscheinlich von einem Traktor, alter Diesel. Aber da war noch etwas. Lukastik bemerkte jetzt die verrostete Handschelle, die von einer Getriebestange baumelte. Auch der andere Teil der Handschelle war geschlossen. Offensichtlich war die Leiche mittels dieser Vorrichtung am Motor fixiert gewesen.
Lukastik stellte sich vor, wie Andrea Pero, unten am Grund des Sees, gleich einer wehenden Flagge von dem Traktorenmotor weggestanden hatte, vom Wasser getragen, treibend in den Strömungen der Tiefe, bevor dann ihr Körper sich so mit Wasser gefüllt hatte, daß er zu Boden gesunken war. Es war mit Sicherheit den Bewegungen des Wassers und des Sandes zu verdanken, daß
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