Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Richter 07

Richter 07

Titel: Richter 07 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gulik
Vom Netzwerk:
habe. Mein Vater hatte mich, seinen einzigen Sohn, sehr lieb und unterrichtete mich auch selbst. Am Nachmittag des unheilvollen Tages hatte er mich Geschichte gelehrt. Als es zu dunkeln anfing, empfing er eine Botschaft und sagte mir, er hätte sofort zum Roten Pavillon zu gehen, der zur Herberge der ›Ewigen Wonne‹ gehört. Nach seinem Fortgang nahm ich das Buch zur Hand, aus dem er mir laut vorgelesen hatte. Ich bemerkte, daß darin sein Klappfächer lag. Da ich wußte, wie sehr mein Vater an diesem Fächer hing, lief ich ihm nach, um ihm sein Eigentum zu bringen. Ich war noch nie in der Herberge gewesen, doch der Wirt kannte mich und riet mir, gleich weiter zum Roten Pavillon zu laufen.
    Ich fand die Tür halb offenstehen, ging hindurch und erblickte das Rote Zimmer. Mein Vater lag zurückgesunken in einem Armstuhl vor dem Bett auf der rechten Seite. Mit einem Seitenblick bemerkte ich eine andere Person, bekleidet mit einem langen roten Gewand, die in der linken Ecke des Zimmers stand. Doch achtete ich nicht auf diese Gestalt, denn ich starrte mit stummem Entsetzen auf das Blut, das die Brust meines Vaters bedeckte. Ich lief zu ihm hin und sah, daß er tot war. Ein kleiner Dolch stak links in seiner Kehle. Fast außer mir vor Schreck und Gram drehte ich mich um, um die andere Person zu fragen, was geschehen war. Doch sie war nicht mehr da. Ich eilte aus dem Zimmer, um jemand zu Hilfe zu rufen, doch da stolperte ich auf dem Gang und fiel. Dabei muß ich gegen die Wand oder einen Pfeiler geschlagen sein, denn als ich wieder zu mir kam, lag ich in meinem eignen Schlafzimmer, draußen in unserem Sommerhaus in den Bergen. Das Hausmädchen sagte mir, ich wäre krank gewesen, und meine Mutter hätte den ganzen Haushalt nach dem Sommerhaus verlegt, weil eine Pockenepidemie auf der Insel wüte. Sie setzte hinzu, daß mein Vater auf eine lange Reise gegangen sei. Infolgedessen glaubte ich, daß alles nur ein schrecklicher Traum gewesen wäre. Die fürchterlichen Einzelheiten blieben dagegen in mein Gedächtnis eingegraben.«
    Er langte nach seiner Teeschale und nahm einen tiefen Schluck, worauf er in seiner Erzählung fortfuhr:
    »Später, als ich größer geworden war, wurde mir gesagt, daß mein Vater Selbstmord begangen habe. Er habe sich im Roten Zimmer eingeschlossen. Doch wurde mir sofort klar, daß hier ein Mord geschehen war, denn ich hatte ja den feigen Mörder gesehen, gleich nach der schrecklichen Tat! Nachdem ich aus dem Zimmer gestürzt war, hatte sich der Verbrecher zur Flucht gewandt und die Tür hinter sich abgeschlossen. Den Schlüssel muß er durchs vergitterte Fenster nach innen geworfen haben, denn ich erfuhr, daß man ihn auf dem Fußboden drinnen hinter der Tür gefunden hatte.«
    Tau seufzte schwer. Er strich sich mit der Hand über die Augen und fuhr erschöpft fort:
    »Von da an begann ich in größter Heimlichkeit nachzuforschen. Doch alle Versuche liefen in einer Sackgasse fest. Gleich zu Anfang mußte ich feststellen, daß alle über den Fall gemachten amtlichen Aufzeichnungen verloren waren. Der damalige Amtmann von Tschin-hwa, ein weiser, tatkräftiger Beamter, erkannte, daß in erster Linie die Bordelle für die rasche Ausbreitung der Pockenepidemie verantwortlich waren. Er ließ sie von allen Frauen räumen und das ganze Viertel niederbrennen. Auch die Amtsräume des Vorstehers fingen Feuer, und die dort aufbewahrten Akten wurden durch die Flammen vernichtet. Ich fand trotzdem heraus, daß sich mein Vater in eine Kurtisane namens Jadegrün verliebt hatte, die soeben zur Blumenkönigin gewählt worden war. Sie war eine auffallende Schönheit gewesen, so wurde mir erzählt, doch wurde auch sie bald nach meines Vaters Tod von der Krankheit befallen und starb wenige Tage später. Die amtliche Darstellung von meines Vaters Tod war, daß er sich das Leben genommen hatte, weil Jadegrün ihn abgewiesen habe. Einige Leute, die beim Verhör von Jadegrün durch den Richter zugegen gewesen waren, versicherten mir, daß die Kurtisane erklärt habe, sie hätte meines Vaters Angebot, sie loszukaufen, einen Tag vor seinem Tod abgelehnt, weil sie einen anderen Mann liebe. Bedauerlicherweise fragte sie der Richter nicht, wer dieser Mann sei. Er fragte nur, warum mein Vater zum Roten Zimmer gegangen sei, um Selbstmord zu verüben. Sie antwortete: Vermutlich weil er sie dort häufig besucht hatte.
    Nun glaubte ich, daß mir des Mörders Tatmotiv Aufschluß über seine Identität geben könne. Mir wurde

Weitere Kostenlose Bücher