Richter 07
zurückzuschicken, wenn er entdeckt, daß sie keine Jungfrau mehr ist.«
»Ihr seid also überzeugt, daß Li sie in Wirklichkeit mißbrauchte, Herr?«
»Natürlich! Das war der Grund, warum Feng ihn tötete. Er ließ den Mord als einen Selbstmord erscheinen, genauso wie er es vor dreißig Jahren tat, um seinen Mord an Tau Kwang zu vertuschen.«
Da er Zweifel in Ma Jungs Zügen las, fuhr er lebhaft fort: »Feng muß es gewesen sein, Ma Jung! Er hatte Grund dazu, ihm bot sich die Gelegenheit. Und jetzt pflichte ich auch deinen beiden Freunden Krabbe und Krebs voll und ganz bei, daß der Akademiker nicht die Sorte Mensch war, die sich wegen verschmähter Liebe das eigne Leben nimmt. Feng wird ihn ermordet haben. Neben der sich bietenden Gelegenheit und dem zwingenden Grund verfügte er auch über eine Methode, die sich vor dreißig Jahren todsicher bewährt hatte. Ich bedaure, daß es hier keine andere Möglichkeit gibt, denn Feng hat auf mich einen sehr günstigen Eindruck gemacht. Doch wenn er der Mörder ist, muß ich gegen ihn vorgehen.«
»Vielleicht kann uns Feng dann auch Aufklärung über Herbstmonds Tod geben, Herr!«
»Die ich bitter nötig hätte! Was wir über den Mord an Tau Kwang und später am Akademiker herausfanden, bringt uns keinen Schritt der Aufklärung des Todes der Blumenkönigin näher. Zwar bin ich sicher, daß es hier irgendwo ein Bindeglied gibt, doch wo ich es entdecken könnte, davon habe ich nicht die leiseste Ahnung.«
»Eben sagtet Ihr, Herr, daß Ihr dem alten Bock seine Geschichten über Li und Jadering glaubtet. Was aber haltet Ihr vom übrigen?«
»Nachdem uns Wen seinen Ratschlag an den Akademiker ausgeplaudert hatte, bemerkte ich, daß es ihm gelang, die Herrschaft über seine geistigen Kräfte wiederzugewinnen. Ich fürchte, es wurde ihm klar, daß ich ihn aufs Glatteis geführt hatte. Allerdings konnte er nicht mehr ändern, was er uns schon gesagt hatte, aber in demselben Augenblick beschloß er, es damit genug sein zu lassen. Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß er mit dem Akademiker noch über andre Angelegenheiten sprach, die er uns nicht zu verraten vorzog. Mag sein, wie es will, wir werden es zur rechten Zeit schon noch herausfinden. Mit ihm bin ich noch nicht fertig!«
Ma Jung nickte. Schweigsam setzten sie ihren Weg fort.
Tau Pan-te stand wartend vor dem Weinladen. Die drei Männer gingen gemeinsam zu Silberfees Nachtquartier.
Sie selbst öffnete ihnen. Mit leiser Stimme sagte sie:
»Fräulein Ling scheute sich, Euch in ihrer elenden Hütte zu empfangen. Sie bestand darauf, daß ich sie trotz ihres kranken Zustandes mit hierher nahm. Ich schmuggelte sie in den Übungssaal, der augenblicklich nicht benutzt wird.«
Eilends führte sie die Männer dorthin. Nahe am Pfosten beim rückwärtigen Fenster saß, in einem Lehnstuhl zusammengekauert, eine schmächtige Gestalt. Sie war in ein einfaches Baumwolltuch gehüllt, das ein verschossenes Braun zeigte. Ihr graues, unordentliches Haar fiel ihr über die Schultern, ihre mit dicken Adern überzogenen Hände lagen in ihrem Schoß. Als sie die Besucher kommen hörte, hob sie den Kopf und wendete ihre blinden Augen in die Richtung, aus der sie Schritte vernahm.
Das schummrige Licht des Papierfensters fiel auf ihr entstelltes Gesicht. Tiefe Pockennarben bedeckten die hohlen Wangen, auf denen krankhaft rote Flecken lagen. Die verschleierten Augen blickten unnatürlich starr.
Silberfee lief auf sie zu, gefolgt vom Richter und dessen beiden Begleitern. Sie beugte sich über das graue Haupt und sagte mit weicher Stimme:
»Der Amtmann ist da, Fräulein Ling!«
Sie wollte sich erheben, doch Richter Di legte seine Hand rasch auf ihre magere Schulter und sagte freundlich:
»Bleibt sitzen, ich bitte Euch. Ihr hättet Euch nicht die Mühe machen sollen, hierher zu kommen, Fräulein Ling!«
»Diese Person steht Euer Gnaden zur unbegrenzten Verfügung«, sagte die Blinde.
Unwillkürlich schrak der Richter zurück, von ungläubigem Entsetzen gepackt. Noch nie hatte er eine so volltönende, warme, wunderbar liebliche Stimme gehört. Aus dem Munde einer entstellten alten Frau kommend, schien diese Stimme ein grausamer, unerhörter Hohn zu sein. Er mußte ein paarmal schlucken, ehe er neue Worte fand:
»Wie war Ihr beruflicher Name, Fräulein Ling?«
»Ich wurde Goldjaspis genannt, Herr. Die Leute bewunderten meinen Gesang und meine … Schönheit. Ich war neunzehn, als mich Krankheit befiel und …« Ihre Stimme
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