Richter
dem Wagen stiegen.
Ferro ging ihnen entgegen, hob die Hand und winkte hoch über seinem Kopf, aber er kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen.
Er hörte Grisenti schreien: »Achtung!«, und nahm im Augenwinkel den weißen Lieferwagen wahr, der von hinten kam. Der Aufprall auf seinem Hintern tat ihm nicht weh, ließ ihn nur kurz die Lippen verziehen vor Verdruss, als er hörte, wie sein Beckenknochen barst, einem trockenen Ast gleich. Darauf wäre der Schmerz gefolgt, ein starker Schmerz sogar, aber er spürte ihn nicht, denn in einem Salto rückwärts hatte er bereits die Windschutzscheibe mit dem Hinterkopf durchschlagen, sodass er tot war, als er über die Motorhaube auf den Asphalt rutschte.
Valentina öffnete die Augen mit dem Gefühl, das schon zuvor getan zu haben, konnte sich jedoch weder an das Wann noch an das Wie erinnern. Gar nicht so sehr wegen der niedrigen Decke und des feuchten Flecks daran, der die Form eines Delphins zu haben schien, auch nicht wegen der Einrichtung wie in einem schäbigen Krankenhaus, nicht einmal wegen dieses Mannes, der da schlafend auf dem Sessel saß, ein Bein über der Armlehne, den Kopf in die Hand gestützt. Ihr war, als hätte sie ihn schon einmal gesehen, dünn war er und ein dunkler Typ, der schmale Schnurrbart unter der Nase, die weiße Jacke, die aussah wie ein Zahnarztkittel, doch wurde ihr Déjà-vu-Erlebnis nicht davon ausgelöst.
Sondern von der Musik, diese für ihren Geschmack allzu süßliche Stimme, die die Endvokale jedes Worteszerdehnte, über einem hüpfenden, von einer Gitarre skandierten Rhythmus schwebend, verzerrt vom Lautsprecher eines kleinen tragbaren Radioapparats.
Mond! Mond, du sprichst nur zu den Verliebten, wer weiß, wie viele Lieder sie dir schon gesungen haben, aber ich bin nicht wie die anderen, ich habe Wichtigeres für dich vor, Mond!
Valentina setzte sich auf, mit einem Ruck, klammerte sich an den Rändern der Pritsche fest, weil sich ihr sofort der Kopf so drehte, und sie wäre heruntergefallen, wenn der Mann nicht von seinem Sessel aufgesprungen wäre und sie in den Arm genommen hätte.
»Langsam, langsam!«
Er versuchte, Valentina wieder hinzulegen, aber sie wehrte sich, und da sie nicht genug Kraft im Rücken hatte, klammerte sie sich an seinem Hals fest, wie ein Äffchen.
»Ist ja gut, ist ja gut«, schnurrte der Mann, »bleiben Sie sitzen, aber ich halte Sie.«
Erst jetzt bemerkte sie den Schlafanzug und die Infusion und nahm auch den brennenden Schmerz in ihrer Seite wahr, und ihr wurde so schwach, dass sie den Hals des Mannes nach unten zog, mit den Armen, um sich wieder auf die Pritsche gleiten zu lassen.
Sie lag ein wenig mit geschlossenen Augen da und atmete durch die leicht geöffneten Lippen, nicht so sehr wegen des Schmerzes und der Erschöpfung, eher um das Durcheinander in ihrem Kopf zu ordnen, ein Durcheinander von sie bedrängenden Fragen, das noch stärker schmerzte als die Wunde in ihrer Seite. Sie bemühte sich, auf das zurückzugreifen, was sie für die Verhöre inProzessen gelernt hatte, und sie rief sich die Reihenfolge der Fragen der Staatsanwaltschaft in Erinnerung.
Ich sehe die Welt durch ein Bullauge, ich langweile mich ein wenig, um Mitternacht findest du mich an einer Jukebox, später schreibe ich in Latein oben an die Wände, es leben die Frauen, es lebe der gute Wein.
»Wo bin ich?«
Sie wusste nicht, ob sie sprechen konnte, und tatsächlich kratzte ihre Stimme tief in ihrem trockenen Hals, so rauh, dass Sanna die Frage nur verstand, weil er sie erwartet hatte. Seit zwei Tagen fragte er sich nun schon, was er dieser Richterin, die wie ein junges Mädchen aussah, antworten würde, wenn sie die Augen aufschlug.
»Warten Sie noch«, sagte er und stützte ihr den Kopf, damit sie aus der Glasflasche trinken konnte, die er ihr an den Mund hielt.
»Wo bin ich?«, wiederholte Valentina.
»In einem Untergrundkrankenhaus.«
Valentina ertrug es, dass das Mineralwasser in der Kehle pikte. Diese Antwort eröffnete eine ganze Reihe neuer Fragen.
»Sind Sie Arzt?«
»Ich war einer. Vor zehn Jahren haben sie mir die Lizenz entzogen. Untergrundkrankenhaus, Untergrundarzt.«
Valentina lächelte nicht und Sanna ebenso wenig. Das war kein Scherz.
»Warum bin ich hier?«
»Weil man auf Sie geschossen hat.«
»Und warum bin ich in keinem richtigen Krankenhaus?«
»Weil man versucht hat, Sie auch dort zu erschießen. Fragen Sie mich nicht mehr, ich habe es selbst nicht wissen wollen. Ferro hat Sie
Weitere Kostenlose Bücher