Rico, Oskar und der Diebstahlstein
Lars auf keinen Fall über irgendwas zu meckern. Sollte später bloà keiner behaupten, ich wäre daran schuld gewesen, dass er das mit der Verantwortung nicht auf die Reihe gekriegt hatte.
»Lass ihn gewinnen, okay?« Oskar wischte mit dem Ãrmel über die Schachtel, als wäre Staub drauf. »Papa flippt aus, wenn er nicht gewinnt. Aber das tut er sowieso bei fast jedem Spiel.«
»Warum spielst du dann überhaupt mit ihm?«
»Weil er manchmal ohne Grund ausflippt, und wenn es beim Spielen passiert, hat er dafür wenigstens einen Anlass. Es ist besser, wenn seine Frustration eine Richtung findet.«
Unter anderen Umständen hätte ich gefragt, was eine Frustration war â vermutlich irgendwas Tiefbegabtes, wenn sie mit Richtungen genauso wenig zurechtkam wie ich. Aber ich hielt die Klappe. In meinem Kopf fing es nämlich spürbar an zu rumpeln, als würde die Bingomaschine schon mal warm laufen.
Und zwar wegen Ãberforderung. Erst Fitzkes Beerdigung mit den geheimnisvollen Besuchern und das Gelb, an dem ich immer noch herumrätselte. Dann der Abschied von Mama und dem Bühl, die womöglich mit ihrem Flieger längst abgestürzt waren, gefolgt von fünfundfünfzig Tonnen voller Hundehaufen, in die ich nur mit einer Periode passte. Was sieben mal acht weniger neun war, hatte ich auch immer noch nicht rausgekriegt, und jetzt also noch so ein dämliches Brettspiel, für das ich zu doof war und das Lars spielte, um zu meckern, und Oskar, damit Lars einen Grund zum Meckern hatte.
Der Tag war echt gelaufen.
Ich war heilfroh, dass wir für heute Abend mit Frau Dahling verabredet waren.
Im Wohnzimmer hockten Lars und Otto auf der Couch. Otto ist eigentlich einen Kopf gröÃer als Lars, aber er saà trotzdem viel tiefer, so sehr drückte sein Gewicht ihn runter. Die Couch selber ist blau und aus so einer Art Leder, das total quietscht, wenn man den Hintern ein bisschen darüberschiebt. Als ich mich das erste Mal draufsetzte, hörte es sich an wie ein Furz. Vor lauter Peinlichkeit wäre ich am liebsten sofort tot gewesen.
»Hallo, Rico«, sagte Lars, und irgendwie kriegte sein Milchbubi-Gesicht eine Art Lächeln hin. Immerhin erkannte er mich.
»Tach auch«, schnaufte Otto. »Na, alles klar?«
Ich nickte beiden nur zu und kniete mich vor den Tisch. Ich hatte mit einem Blick entschieden, noch schlechtere Laune zu haben. Sessel oder Stühle gab es nämlich genauso wenig wie Nüsschen oder Salzstangen oder etwas zu trinken. Es war die unverantwortlichste Umgebung für Kinder, die man sich vorstellen konnte. Alles total Sparta.
Oskar kniete sich schweigend neben mich und begann das Spielbrett aufzubauen. Die Männer schauten ihm dabei zu, auch schweigend. Lars ist immer blass, immer hat er Bartstoppeln â nicht so schön regelmäÃig übers Gesicht verteilte wie bei den Typen, mit denen der Kiesling rumknutscht, sondern ein Durcheinander aus Borsten und freien Stellen wie bei einem Igel mit Haarausfall â, und immer sieht er viel zu jung aus für einen Papa. Fast wie ein kleiner Junge, der zufällig einen Sohn gekriegt hat und dem vor lauter Ãberraschung seitdem immer der Mund ein wenig offen steht. Als der Sohn auf die Welt kam, zog er ihn verwundert bei beiden Ohren hoch, um ihn sich genauer anzugucken, und davon hat Oskar seine Segelohren. Die von Lars sind total normal.
Otto sieht aus wie ⦠na ja, wie ein Otto, also irgendwie rund und gemütlich. Das liegt nicht nur an seinem Gewicht, sondern auch an seinem Namen, der ansonsten so ziemlich der langweiligste Vorwärts-rückwärts-Name ist, den es gibt.
PALINDROM
: Ein Wort, das vorwärts und rückwärts funktioniert, zum Beispiel Otto oder Hannah . Es gibt sogar Vorwärts-rückwärts-Sätze wie Tunk nie ein Knie ein, Knut . Das klingt zwar schwachsinnig, aber nur so lange, bis dem Knut beim Spazierengehen mal ein Euro runterfällt, genau hinter einen heimtückischen Hundehaufen, für den kein Platz in einer von den fünfundfünfzig Tonnen gewesen ist. Und wenn der Knut sich danach bücken muss â¦
Aber das Auffälligste an Otto sind seine kleinen Augen. Sie huschen und rollen immer hin und her, als wäre in ihm tief drin eine groÃe Unruhe. Wenn man sich das zu lange anguckt, wird man selber ganz unruhig. Während Oskar die Spielmännchen in ihre Häuschen stellte,
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