Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
verweilten. Manchen sah man ihr Schicksal an, andere hatte das Schicksal begünstigt und man sah ihnen ihr Schicksal nicht an. Die Männer, das war ihre Chance, beziehungsweise einer davon.
Rasch schulterte sie ihren Rucksack und lief die Riedallee in südlicher Richtung entlang, dann bog sie nach links ab, als sie das kleine Schild SHB-Naturschutzzentrum Pfrunger-Burgweiler Ried sah. In 30 Minuten würde sie dort sein. Dort auf dem Riedlehrpfad würde sie auch auf die Männer treffen und sich einen von ihnen aussuchen. Sie musste in ihrer Auswahl jedoch sehr vorsichtig sein, viel hing davon ab.
Wie elektrisiert von ihrer guten Idee stapfte sie weiter, bis nach einer letzten Kurve das Gebäude des Naturschutzzentrums vor ihr lag. Erschöpft ließ sie sich auf einem der großen Findlinge nieder, die hier zu Anschauungszwecken drapiert waren. Meist fielen aber Kinder von ihnen herunter. Noch einmal ging sie ihren Plan in Gedanken durch. Dann stand sie auf, ging zum Eingangsbereich des Riedlehrpfades, setzte sich vor dem Holzsteg auf die Bank und wartete. Sie wusste nicht, wann das Abendessen gereicht wurde, aber danach würden doch einige Patienten der Zieglerschen Stationären Klinik für suchtkranke Männer einen kleinen Verdauungsspaziergang machen. Und wenn sie heute keinen fand – dann morgen.
Sie musste einen Mann erkennen, der ein Neuzugang war, die waren labiler. Und als die ersten der Abendspaziergänger den Lehrpfad begingen, tat sie, als wäre sie in ihre Wanderkarte vertieft. Sie spähte sich ihr Opfer jedoch ganz genau aus. Der eine sah zu seriös und gefestigt aus, die nächsten kamen in lachenden oder ernsten Grüppchen. Dann kam lange niemand mehr. Sie wollte sich schon aufmachen, um einen alternativen Schlafplatz zu finden, als er kam. Der war es! Er sah hager aus, hatte langes, strähniges Haar. Sein kantiges, fahles Gesicht war von einem ungepflegten Bart umrahmt. Sein Alter war schlecht zu schätzen, aber die 40 hatte er noch lange nicht erreicht. Hektisch trat er auf den weichen Weg des Riedlehrpfades ein. Er wirkte nicht unattraktiv, als er näher kam. In der linken Hand schlenderte eine verwitterte Aldi-Plastiktüte. Der bauchige Inhalt war unschwer zu erraten.
»Entschuldigung, können Sie mir kurz helfen?«
Der Mann blieb erschrocken stehen. Als er ihr Gesicht sah, lächelte er kurz.
»Ja, klar, um was gehts?«
»Ich will heute noch bis Ravensburg auf die Veitsburg, in die Juhe, weiß aber gar nicht genau, wo ich gerade bin.«
Sie setzte ihr naivstes Lächeln auf.
»Bis Ravensburg, heute noch? Zu Fuß oder mit dem Bus?«
»Ich weiß nicht, ist einfach eine blöde Situation, ich habe mich in der Zeit völlig vertan.«
»Ja, das kann vorkommen.« Der Mann fuhr mit seinen Fingern nervös durch das strähnige Haar.
»Können Sie mir mal zeigen, wo wir gerade sind?«
Der Mann beugte sich über die Karte. Sein zitternder Zeigefinger umkreiste dann großzügig, ohne jegliche Ahnung, einige kartografierte Ortschaften.
»Ungefähr hier. Aber das kann ich Ihnen auch ohne Karte sagen: Nach Ravensburg kommen Sie heute nicht mehr zu Fuß.«
»Ich möchte halt nicht wieder bei einem einsamen Bauern schlafen, der dafür mit Naturalien bezahlt werden will, Sie verstehen?«
Das Interesse des Mannes war geweckt, sein Kopf ging wenige Zentimeter zurück, er betrachtete die Frau von oben bis unten und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Sind Sie schon lange unterwegs?«
»Ja, ich komme von Köln und möchte bis Basel wandern.«
»Allein?«
»Ja, ganz allein.«
Sie langte in den Rucksack und holte sich aus einer zerknitterten Packung eine Marlboro.
»Auch eine?«
»Ja, ähhh, nein, nicht hier«, stotterte er nervös und blickte mit vogelartiger Kopfbewegung um sich.
»Warum nicht hier?«
»Komm mit, ich erzähls dir. Vielleicht kann ich dir ja auch helfen, mit einem Schlafplatz.«
Er hatte angebissen. Er war schon beim Du. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Es ist nicht schlecht, nicht schlecht auszusehen.
Der schlanke Mann ging ihr auf stakeligen Jeans-Beinen flott voraus. Sie überquerten zwei kleine Holzbrücken, über der dritten lag eine umgestürzte Tanne.
»Der Sturm. Dahinter können wir in Ruhe sprechen.«
Die Hand des Mannes deutete auf die grünen Äste. Sie zwängten sich durch das stechende Grün des entwurzelten Baumes. Auf der anderen Seite verschwanden sie in der Dämmerung in einem dichten Gestrüpp und machten es sich auf zwei Tannenstümpfen
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