Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
geraucht, dort hatte er sein erstes Sexheftchen angeschaut, dort hatte er geweint, wenn seine Eltern sich mal wieder gestritten hatten, dort hatte er auch zum ersten Mal ein Mädchen geküsst, die Linda aus Ostrach, die doofe Kuh. Und dort war er auch mit Alex gewesen. Dort zog es ihn hin, unter den magischen toten Baum, der knorriges Symbol für einen Teil seines Lebens geworden war, dort unter die knöchernen Äste der toten Kiefer.
Langsam schlurfte er die Straße entlang, ein rotes Auto kam ihm entgegen. Das war doch Bönles Freundin, die Wirtstochter. Er wollte die Hand zum Gruß heben, aber dann wäre das Seil vielleicht von seiner Schulter gerutscht, und die andere Hand suchte gerade die Sicherheit der Hosentasche. Hätte sie angehalten, hätte er es sich vielleicht noch einmal anders überlegt. Er drehte sich um und schaute dem kleinen, roten Wagen nach, der zackig hinter einer Kurve verschwand. Er ließ seinen wässrigen Blick nach rechts ins Ried hinunter wandern. Noch fünf Minuten, dann würde er an seiner Lieblingsstelle sein, dort, wo die tote Kiefer stand. Dort, wo er geraucht und die doofe Linda mit ihrer Zunge wie mit einem Rührgerät in seinem Mund herumgewerkelt hatte. Er bog von der schlecht geteerten Straße ab und schlenderte mit hängendem Kopf den grünen Planweg entlang. Er blieb am Elektrozaun, der längs des Weges gespannt war, stehen und betrachtete die Kühe dahinter. Braun-weiß stand die melancholische Herde wiederkäuend da und betrachtete Tobi. Sie genossen die letzten Herbsttage, bald würden sie in den dunklen Ställen stehen und Silofutter fressen. Tobi beneidete sie. Er klatschte in die Hände und schrie:
»Gschhh, gschhh!«
Das Seil war von seinen Schultern gerutscht und bildete eine Schlange zu seinen Füßen. Die minderbemittelten Horntiere blickten kurz auf.
Tobis Augen liefen an der blinkenden, geschwungenen Linie des Elektrodrahtes entlang. Er wusste, dass es nicht ausreichen würde, trotzdem griff er nach dem dünnen Draht und umfasste ihn mit der ganzen Hand. Es dauerte wenige Augenblicke, bis der erste Stromschlag durch seine Hand zuckte, dann der zweite, dann ein dritter. Er stöhnte auf und musste wieder weinen. Hoffentlich wird es nachher nicht so schlimm. Er griff entschlossen nach dem Seil auf dem Boden, legte es wieder über seine linke Schulter und ging weiter – zur toten Kiefer. Tobi ging immer langsamer, er konnte sie schon sehen, die Kiefer. Er wusste auch schon, welcher Ast es sein würde. Oder sollte er es sich noch einmal anders überlegen? Wenn er darüber nachdachte, hatte es mit einem Selbstmord ja keine Eile, man kann es eigentlich jeden Tag tun. Tobi musste lächeln, er dachte an Bönle, den verrückten Religionslehrer, der hatte immer gesagt, das heißt nicht Selbstmord, man kann sich ja nicht selbst ermorden, es muss Selbsttötung oder besser noch Suizid heißen. Tobi lachte und weinte und schrie zur toten Kiefer hin:
»Besser noch Suizid, besser noch Suizid!«
Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob Selbstmord die richtige Lösung war. Er drehte sich um und schaute zur Straße hin. Dort fuhr gerade ein blau-weißes Polizeiauto mit hoher Geschwindigkeit schaukelnd die schmale Straße in Richtung Riedhagen. Tobi dachte an seinen Vater, wie er heute Morgen mit den beiden Polizisten geschimpft hatte: Ich suche ihn doch auch, wenn der nach Hause kommt, der wird was erleben! Tobi hatte alles aus seinem Versteck auf dem Heuboden gehört.
Entschlossener denn je drehte er sich wieder in die andere Richtung um und schlurfte auf die abgestorbene Kiefer zu. Er sah den Ast, er war dick genug.
Es war etwas mühsam, auf den Ast zu klettern. Doch dann hatte er ihn erreicht. Vorsichtig setzte er sich in die Astgabel, nahm das solide Hanfseil von seiner Schulter und band das eine Ende mit einem gewöhnlichen Doppelknoten um den schuppigen Ast. Er ließ den Rest des Seiles auf den Boden, nahm Maß mit seinen Augen, zog es wieder nach oben und schnitt mit seinem Taschenmesser die Überlänge ab. Nicht, dass er sprang und, nur weil das Seil zu lang war, er mit gestauchten Beinen im weichen Boden landete. Nein, das musste schon professionell vonstatten gehen, so ein Selbstmord, so ein Suizid. Auf der Astgabel sitzend versuchte er sich an den Henkersknoten zu erinnern. Er hatte extra noch im Internet nach Henkersknoten gegoogelt. Zuhause hatte er ihn noch gekonnt. Nun saß er da und es fiel ihm nicht mehr ein, wie man das Seilende führen und binden
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