Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
einer traurigen Erfahrung in seiner Kindheit hatte er Schwierigkeiten, anderen Menschen in die Augen zu schauen. Herr von Abwinkel-Krausermann war ein sehr offener Psychiater.
Endlich überließ er Ann-Kathrin Fränkel die Arena.
Freundlich blickte sie in die Runde und forderte die Schüler auf:
»Vorstellen muss ich mich in dieser Runde nicht. Wenn ihr Fragen habt, stellt sie bitte, ich werde versuchen, alles wahrheitsgemäß zu beantworten. Wenn ich eine Frage nicht beantworten kann oder will, denke ich einfach, dass ihr Verständnis dafür habt. Ich habe mich jetzt nicht mit einem Referat vorbereitet, ich möchte, dass Fragen und Antworten spontan kommen. Also, ihr seid jetzt an der Reihe!«
Ann-Kathrin lehnte sich entspannt im Stuhl zurück und lächelte in die Runde. Die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder war augenfällig, die ruhigen dunklen Augen, das schwarze glänzende Haar, die feinen und ebenmäßigen Gesichtszüge. Sie öffnete die Hände auffordernd zur Klasse hin. Niemand traute sich, außer Alisa:
»Frau Fränkel, stimmt es, dass Sie das Riedweible sind, ähh, waren?«
Ann-Kathrin Fränkel lachte:
»Nein und ja. Für die, die mich im Ried gesehen haben, da gehört ja euer Lehrer auch dazu, war ich das Riedweible. Ich muss mich korrigieren, für euren Lehrer und seine Partnerin war ich wahrscheinlich noch nicht das Riedweib. Die Leute haben dann halt aus dem, was sie sich nicht erklären konnten, eben das Riedweible gemacht. Ich war es also nicht, ich wurde dazu gemacht.«
Ein anderer Arm schnellte schnipsend in die Höhe:
»Wo haben Sie dann immer gewohnt?«
»Gute und wichtige Frage. Das ist so: Wenn man wie ich über längere Zeit obdachlos ist, findet man immer irgendwelche Winkel zum Unterschlupfen. In der Stadt hat man auch Kontaktadressen und, wenn’s nicht anders geht, Caritas, Bahnhofsmission und so. Also, man kommt immer irgendwie unter. Problematischer ist es auf dem Land, da fallen Fremde in einem kleinen Dorf sofort auf. Die Leute sind neugierig und misstrauisch, sie wollen wissen, wer sich da rumtreibt. Deshalb muss man hier sehr vorsichtig sein. Übernachten, vor allem in der kalten Jahreszeit, wird zum Problem. Das Allerwichtigste ist ein guter Schlafsack und dann muss man eben suchen. In den Wäldern gibt es die Holzarbeiterhütten, am Rande der Dörfer Scheunen oder Reitställe. Man findet immer etwas, man braucht aber das Gespür, nicht entdeckt zu werden. Ihr glaubt gar nicht, wie gut ein Förster sein Revier kennt.«
Der psychiatrische Arzt, Herr Doktor von Abwinkel-Krausermann lauschte, andächtig neben Ann-Kathrin sitzend, ihrer Erzählung, nickend ermunterte er sie, ihre Geschichte weiter zu erzählen. Wieder meldete sich Alisa:
»Es wurde herumerzählt, dass Sie vom Fränkel-Hof verstoßen wurden. Aber der Tobi hat gesagt, keiner wusste von Ihnen. Doch irgendjemand muss ja von Ihnen gewusst haben, man kommt ja nicht völlig unbemerkt auf die Welt.«
Ann-Kathrin konzentrierte sich und schaute lange in die Klasse, bevor sie anfing zu reden:
»Ja, jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Warum war ich überhaupt im Ried, warum habe ich den Hof meiner Eltern beobachtet? Da muss ich weit zurückgreifen. Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, wurde sie schnell schwanger – mit mir. Meine Mutter hat mir erzählt, dass das meinem Vater alles zu schnell ging. Vor allem hatte er Angst, ein Mädchen zu bekommen, und er bestand auf eine Untersuchung, die damals ganz neu, aber auch riskant war. Pränatale Diagnostik, er verlangte von meiner Mutter eine Fruchtwasseruntersuchung, um das Geschlecht bestimmen zu können. Eine Ultraschalluntersuchung reichte ihm nicht aus. Obwohl damals das Risiko einer Fehlgeburt durch diese Art der Untersuchung noch deutlich höher war als heute, bestand mein Vater darauf. Und es kam, wie es kommen musste. Ein Mädchen, ein Ripp!«
Wieder ging eine Hand hoch:
»Warum wollte Tobis Vater kein Mädchen?«
»Ich vermute, das hängt mit alten Denkstrukturen zusammen: das erste Kind ein Junge, der männliche Erbe, der den Hof mal übernehmen kann. Männer können zupacken. Frauen müssen verheiratet werden und kosten Geld. Die hauen dann eh wieder vom Hof ab.«
»Ja, aber heute ist es doch nicht mehr so«, meldete sich ein Zwischenrufer.
»Es ist nicht mehr so, aber in manchen Köpfen ist das immer noch drin, und mein Vater ist eben so einer. Und er verlangte von meiner Mutter, mich abtreiben zu lassen. Sie sollte nach Holland, er hatte eine
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