Riemenschneider
gekleidete Damen folgten der Frau des Bürgermeisters. Erst beendeten sie den Vers aus dem schmerzhaften Rosenkranz, dann schluchzten sie auf. Hedwig Suppan zitterte das Kinn. »Sie war meine beste Freundin.« Lauter noch weinten die Begleiterinnen.
Wenig später versiegte das Klagen wie auf ein unsichtbares Zeichen hin und wich einer ernsten Geschäftigkeit. Wasser musste herbeigeschafft werden, Lappen und Tücher. Hedwig öffnete ein Holzkästchen, behutsam entnahm sie kleine Phiolen mit Rosen- und Lavendelöl. Sie hatte sich zu ihrer hageren Größe aufgerichtet und den Hausherrn angesehen. »Bitte, lass uns jetzt allein. Wir Totenfrauen wollen Anna den letzten Dienst erweisen.« Ihre Bitte war ihm Befehl, dem er beinah erlöst gefolgt war.
Erst hier draußen im Innenhof, nach immer wieder quälenden, ineinanderstürzenden Bildern, hatte er etwas Ruhe gewonnen und seine Gedanken sammeln können.
Jetzt horchte er auf den Singsang. Diese Stelle aus dem Psalm war ihm bekannt und lieb. » … Redde mihi laetitiam salutis tuae, et spiritu generoso confirma me.«
»Tröste mich wieder mit deiner Hilfe«, flüsterte er, »und mit einem freudigen Geist rüste mich aus.« Til blickte langsam hinauf, empfand das schwarze Gemäuer ringsum wie eine dunkle Gruft, die erst an den Hausgiebeln endete, darüber aber blinkten Sterne: Der Himmel hatte sich für Anna geöffnet. »Das Glitzern dort oben wird dir gefallen, Liebste.« Er wischte mit dem Handrücken die Augenwinkel. »Dein Ewald hat dir Broschen geschenkt und fein gearbeitete Goldketten umgelegt. Und ich? Von mir hast du das Kreuz in der Wohnstube, die Madonna in unserer Schlafstube, mehr nicht. Ach, Anna. Vergib den Kummer, den du meinetwegen erlitten hast. Ich verdanke dir so viel, ohne dich hätte ich den Weg bisher nicht gehen können.«
Dreizehn Jahre waren es her. Es war das Todesjahr des Vaters. Nein, Til hatte ihn nicht geliebt, auch nicht gehasst, diesen unsteten, glücklosen Münzmeister, der mit Frau und Kind von Ort zu Ort ziehen musste, von Heiligenstadt an der Leine nach Osterode im Harz, ständig auf der Flucht vor Steuereintreibern und Gläubigern. Damals im Jahre 1483 hatte sich Til als Bildhauergeselle in Würzburg eine Bleibe gesucht, leistete den Handwerker-Treueeid vor den beiden Bürgermeistern und war in die Gilde der Maler, Bildhauer und Glaser, in die St. Lukasgilde, aufgenommen worden.
»Auf ewig wäre ich von einer Werkstatt zur anderen gezogen. Hätte Aufträge ausgeführt. Zu mehr bringt es nun mal ein Wandergeselle nicht. Dann begegnete ich Anna. Das war mein Glück.« Nachdenklich nickte er. »Ja, ein Glückstag. Sie war zu Besuch bei der Frau meines Meisters.«
Die Witwe des Goldschmieds fand Gefallen an dem hochgewachsenen, kräftigen jungen Mann mit der kupferfarbenen Haarmähne und bat ihn für eine Ausbesserungsarbeit zu sich in die Franziskanergasse. Til lächelte vor sich hin. »Eine Tür sollte ich richten, mehr nicht. Dann gab sie mir zu essen. Und ich hatte Hunger. Und sie hat mir immer mehr aufgetischt: Suppe, Wein und Schinken.« Als er gesättigt Löffel und Messer beiseite legte, hatte sie sich in ihrer weiblichen Fülle zu ihm gebeugt: »Bist du wirklich schon satt?« Wehmut überkam ihn bei der Erinnerung. »Auch wenn du es später immer abgestritten hast, Liebste: An diesem Tag wolltest du mich. Es stimmt einfach nicht, dass ich mich nur für mein Fortkommen bei dir eingeschmeichelt habe.«
Sein Ehebündnis im Jahre 1485 mit der Witwe des Goldschmiedemeisters hob den einfachen Gesellen in den Bürgerstand, mehr noch, durch die Heirat erlangte er die Meisterwürde und konnte Lehrbuben aufnehmen; außer den drei Söhnen brachte ihm Anna den Hof zum Wolfmannsziechlein wie auch etliche Weinberge in guter Lage. Kein Zweifel, Tilman Riemenschneider war über Nacht ein wohlhabender Mann geworden.
»Misere mei, Deus, secundum miesericordiam tuam …« Drinnen im Haus begannen die Totenfrauen den Psalm von Neuem. Mit einem Mal fühlte er sich von dem Singsang bedrängt. »Alle Pflichten habe ich erfüllt, das Vermögen habe ich durch meiner Hände Arbeit vermehrt. Ich war dir ein Ehemann, so gut ich konnte.«
Die Eingangstür schwang auf. Im Lichtschein stand Annas ältester Sohn Georg. »Vater?«, fragte er ins Dunkel.
»Hier bin ich.«
Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. Til wusste keine Worte des Trostes, fest legte er dem Sohn die Hand auf die Schulter.
»Vater. Was wird jetzt?« Ein gefasster, beinah sachlicher
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